Herr Dr. Portisch, Sie gelten als einer der bedeutendsten Journalisten der Nachkriegszeit. War für Sie von Anfang an klar, dass das Ihre Berufung ist? Warum gerade Journalismus?
Mein Vater war sein ganzes Leben lang Journalist, war Chefredakteur der Preßburger Zeitung. Das können Sie auch in meinen Memoiren „Aufregend war es immer“ lesen. Die Preßburger Zeitung war ein Verband mit der Prager Zeitung, der Brünner Zeitung und mit der Mährisch-Ostrau Zeitung – mit den deutschsprachigen Zeitungen der Tschechoslowakei, die aber durchwegs in jüdischem Besitz waren. Als die deutschen Truppen im März 1939 in Böhmen und Mähren einmarschiert sind, haben Sie diesen Zeitungskonzern als allererstes zerschlagen und alle Zeitungen annektiert. Also entweder eingestellt oder umgelenkt auf ihre eigenen Ziele. Mein Vater wurde auf die Straße gesetzt, er hat seinen Job gesetzt. Seine Art des Journalismus war immer ein schönes Vorbild für mich, aber ich wollte nicht nacheifern.
Ich wollte in die Welt hinaus, forschen und etwas entdecken. Ich wäre auch gerne nach Borneo geflogen und hätte den Dschungel gesehen, aber ich habe mich dann schon im April 1945 an der Uni inskribiert und uns ist sehr schnell das Geld ausgegangen. Das musste ich mir dann selber verdienen, aber es gab wenig Angebote.
Mein Vater hat den Niederösterreichische Zeitungsverlag mit der Sankt Pöltner Zeitung, der Kremser Zeitung, der Amstettner Zeitung und der Wiener Neustädter Zeitung gegründet. Die haben ein Wiener Büro eingerichtet, in das die Uhr-Nachrichten aus Niederösterreich und Burgenland eingetroffen sind. Die wurden dort erstmals redigiert. Man hat mich dann zu einem Kollegen namens Meixner hinzugesetzt und dort habe ich gelernt, die Meldungen zu redigieren und sie druckreif zu machen. Das war mein erster journalistischer Job und bei dem bin ich geblieben.
Nachher habe ich geschaut, wo ich bei einer anständigen Zeitung unterkommen kann, letztendlich war es bei der Wiener Tageszeitung. Die hat eine besondere Gründungsgeschichte; ursprünglich wurde sie nur für den Bundeskanzler Raab gemacht, das war sein persönliches Anliegen. Ich habe hier für die Außenpolitik geschrieben. Es gab dort auch zwei andere Leute. Einerseits den Karl Polli, der während des Krieges in München eingesperrt war. 1945 ist er freigekommen und zurück nach Wien. Er hat die Außenpolitik geleitet. Ihm zur Seite stand ein junger Journalist aus Graz, der Hans Dichand – späterer Gründer der Kronen Zeitung. Mit den beiden wurde ich also zusammengespannt, was ein wunderbares Training für mich war. Jeden Tag musste ich etwas schreiben. Es gab da eine Spalte auf der Seite 3, wir haben das ‚Glosse‘ genannt, mit drei Standpunkten. Jeden Tag mussten die gefüllt werden. Es war ein freies Feld, man konnte da seine eigenen Ideen veröffentlichen. Polli war ein strenger Erzieher. Abgesehen davon, dass er wirklich ein toller Demokrat war und politisch erstklassig versiert war, war er außerdem einer, der selber nicht auf der Schreibmaschine schreiben konnte. Daher hat er alles, dass er von sich geben wollte, einer Sekretärin diktiert. Das hat er auch von seinen Mitarbeitern erwartet. Wir sollten nicht selber an der Maschine sitzen und schreiben. Das habe ich schnell begriffen. Von da an habe ich eigentlich fast nie mehr ein Wort geschrieben. Auch meine letzten Bücher sind alle diktiert.
Sie haben auch die Möglichkeit gehabt, in Harvard und auf anderen US-Eliteuniversitäten Journalismus zu studieren. Ihnen wurde dort gelehrt, das wichtigste sei, über die Wahrheit und nur die Wahrheit zu schreiben. Sie waren Chefredakteur und auch Außenkorrespondent und vieles andere. Wie haben Sie die Entwicklung des Journalismus in der Nachkriegszeit erlebt?
Wir waren alle der Kritik unseres Chefredakteurs und des Abteilungsleiters ausgesetzt, wenn wir geschrieben haben. Durch diese Kritik sind wir so gut wie möglich erzogen worden. Richtig gelernt habe ich den Journalismus aber erst 1950 durch ein Stipendium, das von den Amerikanern ausgeschrieben wurde. Das war das Geld vom Herrn Rockefeller, der das für Publizistik in Europa nach dem Krieg gestiftet hat. Damit die jungen europäischen Journalisten anständigen Journalismus lernen. Die Bundespresse Wiens möge zehn österreichische Journalisten aussuchen, die nach Amerika gehen und dort an der School of Journalism der Universität Missouri ausgebildet werden. Das war kein Zufall, diese Universität ist auch heute noch die beste journalistische Uni in Amerika. Geleitet wurde sie damals vom Dean Mott, der uns selbst empfangen und die ersten Stunden unterrichtet hat. Er hat uns Dinge beigebracht, die für uns sofort verständlich waren, wir aber noch nicht so als unsere Leitmotive kennengelernt hatten. Check, Re-Check, Double-Check – dreimal überprüfen, ob es auch wahr ist, was du da schreibst. „Jedes unwahre Wort, das ihr schreibt, schreibt ihr gegen euch selbst und gegen das Medium, dass ihr vertretet. Wenn ihr unwahre Dinge berichtet, werdet ihr sofort das Gehör der Leser und euren eigenen Ruf verlieren. Und das Medium, für das ihr arbeitet, wird auch seinen Ruf verlieren. Die Wahrheit ist das oberste Gebot“, meinte Dean Mott gleich in der ersten Stunde.
Um die Wahrheit herauszufinden, muss man alle befragen. Nicht nur eine Quelle, sondern alle, die es gibt. Insbesondere die, die anderer Meinung sind. „Audiatur et altera pars“ – man muss auch die Gegenseite hören. Dieser Spruch stammt aus dem römischen Recht. Man muss die andere Seite mitbedenken, mithören und mitberücksichtigen. Bei Zweifel sollte man nicht sagen, es ist schon gut so, sondern man muss entscheiden, wo die Wahrheit liegt. Als freier Journalist muss man dann auch immer implizit für den Angeklagten sein. Denn der ist ohne Verteidigung. „In dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten.
Das sind die Grundsätze, denen wir in Amerika verpflichtet worden sind. Nach diesen Leitmotiven haben wir in Europa dann geschrieben. Man muss vermeiden andere Leute anzugreifen und herabzumindern. Oder gar mit Schimpfworten zu bedecken. Man muss immer auch um die Ehre und die Menschenwürde der anderen bemüht sein. Das muss man absolut beachten. Diese Grundsätze habe ich auch in der Redaktion vertreten und anderen weitergegeben. Wahrheit, Ehrlichkeit und Toleranz. Immer auch die Vorurteile der Leser bekämpfen und nie bestätigen. Das ist nicht so einfach. Auch die heutige Presselandschaft in Österreich beweist, dass die Wahrheit zu vertreten einen mutigen Schritt braucht. Auch bei uns war das immer ein mutiger Schritt, aber wir haben den getan. Wir haben auch aufgeschrien, wenn das bedroht war.
In meinem Fall war das der große Aufruf zur Rundfunkreform, die ich 1964 initiiert habe. Mit der haben wir die Unabhängigkeit des Journalismus im Rundfunk einbetoniert. Damals wurde die auch nicht mehr angetastet und die hat bis heute gehalten. Ich würde sagen, das hat ganz stark zu meinem Journalismus hinzugehört.
Mit der Unabhängigkeit des Rundfunks sind wir schon beim Stichwort GIS-Gebühren. Sie setzen sich dafür ein, dass diese nicht abgeschafft werden. Wie lässt sich das begründen?
Das ist ganz einfach. Über die GIS-Gebühren wird der Rundfunk mit Geld versorgt und an diesem Geld hängt keine Bedingung. Wenn man das abschafft, muss das Geld woanders herkommen. Woher? Es kann nur von der Regierung kommen. Aber wenn es von dort kommt, ist es ein abhängiges Geld. Damit wird die Unabhängigkeit des Rundfunks sehr schnell verkauft.
Dann müsste sich die Führung von Radio und Fernsehen alle drei Monate bei der Regierung anstellen und um Geld bitten. Dieses bekommen sie nur, wenn sie regierungsfreundlich publizieren. Von Unabhängigkeit ist da keine Rede mehr. Die GIS-Gebühr ist das Blut des unabhängigen Rundfunks. Wenn das zu fließen aufhört, ist die Unabhängigkeit in Gefahr.
Würden Sie sagen, dass vor allem in Krisenzeiten eher die Politik die Medien beeinflusst, oder die Medien die Politik?
Ich hoffe, die Regierung weiß sich zu zähmen und greift nicht entscheidend in die Berichterstattung ein. Ich hoffe auch, dass die unabhängigen Zeitungen – davon gibt es ja einige – sich gegen eine Einflussnahme wehren. Das soll auch so bleiben und sich nicht ändern.
Außerdem betonen Sie immer wieder die Bedeutung der Geschichtsaufarbeitung Österreichs. Wie haben Sie den Prozess miterlebt und welche Rolle kommt hier den Medien zu?
Das war eine große Aufgabe. Wie steht man der eigenen Vergangenheit gegenüber? Das barg eine gewisse Gefahr. Die Alliierten haben uns hier eine Eselsbrücke gebaut. 1943 war die Konferenz in Moskau, auf der sie schon alles regeln wollte, was nach dem Krieg in Europa geschieht. Aber es ist ihnen fast nichts gelungen. Ganz am Ende haben Sie dann beraten, was sie mit Österreich machen sollten. Ganz schnell hat man sich dann darauf geeinigt, dass Österreich das erste Opfer Hitlers war. Österreich sei ein Opfer des Nationalsozialismus und steht daher den Alliierten freundlich gegenüber und ist ein Verbündeter.
Das war eine These, die selbstverständlich von den österreichischen Politikern, die selbst zum Teil in Konzentrationslagern waren, begrüßt wurde. Es war für sie eine klare Sache. Beispielsweise der Polli, der das Gefängnis von innen gesehen hat. Für ihn waren wir das erste Opfer Hitlers.
Aber daraus hat sich ergeben, dass wir nicht unbedingt den eigenen Taten dieser Zeit auf die Spur gingen. Sondern, alles, was im Sinne des Nationalsozialismus gemacht wurde, war Österreich feindlich und abzulehnen, aber es wurde nicht gesagt, dass Österreicher daran beteiligt waren. Dass wir auch KZ-Wächter waren und mitschuldig waren. Durch diese Formel des Kongresses hat man sich das erspart. Es war sehr schwer, dagegen aufzutreten und zu sagen, so war es nicht. Wir waren nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Ich habe mir das sehr zu Herzen genommen und mich viele Jahre dafür eingesetzt, dass das klar und wahrheitsgemäß abgerechnet wird. Im Großen und Ganzen ist mir das auch gelungen.
Blicken wir auf die Außenpolitik, genauer gesagt auf Russland. Über dieses Land haben Sie auch viele Bücher geschrieben, etwa ihr aktuellstes “Russland und Wir”. Russland war seit Peter dem Großen ein wichtiger Bestandteil Europas. Später dann auch in der Heiligen Allianz und beim Wiener Kongress. Seit dem Jahr 2000 erlebt man aber eine Abkühlung der Beziehung zwischen Europa und Russland. Der Höhepunkt dieser Abkühlung war die Krim-Krise um 2015. Wie würde Sie die aktuelle Rolle Russlands in Europa beschreiben?
Russland hat in den letzten 30 Jahren als atomare Großmacht in der Weltpolitik weniger stark mitgewirkt. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regierung der Bolschewisten ist die Großmachtstellung Russlands bedroht worden. Sie mussten ihren eigenen Stil und ihre eigene Beschaffenheit abschaffen, weil sie auch den Kommunismus abschaffen mussten. Man kann ruhig sagen, sie haben den Weltmachtstatus verloren.
Putin ist ein Mann, der diesen alten Einfluss der Sowjetunion auf die Weltpolitik wiederherstellen will. Dafür tut er viel, beispielsweise sein Eingreifen in Syrien. Er war einer der wenigen, ganz mutigen Leute, die in den Syrienkrieg gegen den Islamischen Staat eingegriffen haben. Das hätten auch die EU-Staaten tun können – die Deutschen, die Franzosen, die Engländer. Die haben alle Berufsarmeen und der Islamische Staat hat sich ja auch gegen uns gerichtet. Es gab eine ganze Anschlagsserie in Frankreich. Als Europäer hätten wir uns zu wehren gehabt. Wir hätten im Irak eingreifen müssen und den Islamischen Staat zerstören sollen. Ich habe das immer kritisiert. Wo bleibt Europa in dem ganzen Konflikt?
Die Russen waren tapfer, die Amerikaner auch. Sie haben den Islamischen Staat besiegt und mit diesem Sieg hat Russland einen Teil seiner Mitbestimmung und seiner Rechte im Nahen Osten wieder erworben. Es konnten sich Russland wieder mit Persien auf eine Linie einigen und gemeinsam konnte man wieder mehr Einfluss nehmen. Putin ist hier auf einem guten Weg. Auch die Bemühungen Russlands in Afghanistan machte Sinn, um wieder in der Weltpolitik mitzuspielen. Afghanistan ist die Brücke zu Asien, zu Indien, zu Pakistan. Damit gewinnt man Einfluss. Aber sie sind gescheitert. Nicht zuletzt auch daran, dass die Amerikaner die Aufständischen in Afghanistan unterstützt haben. Dieselben, die sie zuvor selbst bekämpft haben. Aber so ist das eben. Russland hat sich hier ein altes neues Feld im Nahen Osten erworben. Putin ist stark in Kontakt mit den Staatschefs der Türkei und Persien. Er versucht, die Außenpolitik mitzubestimmen, was ihm teilweise auch gelingt.
Wenn man sich Russlands Rolle in Europa anschaut, gibt es ein Bedenken und eine Kritik von Russland an den Westen: Die NATO-Osterweiterung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, auch in den 2000er Jahren, als die Oststaaten – die ehemaligen Warschauer Staaten – Mitglieder der NATO geworden sind. Russland fühlt sich dadurch bedroht. Wie stehen Sie dazu? Finden Sie, dass die Kritik und Bedenken Russlands berechtigt sind?
Das liegt auf der Hand. Natürlich wurde das von den Russen nicht mit Freude begrüßt. Jene Staaten, bei denen sie ihren Einfluss zurückgenommen haben – Rumänien, Bulgarien, Tschechoslowakei, Ungarn – dass das alles lückenlos ins Westliche übergeht; in ein militärisches Bündnis, das zweifelslos ein Schutzschild gegen eine Einmischung Russlands in dieses Gebiet ist. Das kann Russland nicht erfreuen. Das muss Russland sogar stören.
Erstaunlich ist aber, dass die Russen sich hier nicht sehr viel eingemischt haben. Die Russen haben den Beitritt dieser Staaten zur NATO akzeptiert und haben keinen erheblichen Druck ausgelöst. Lediglich in der Ukraine wurde es kritisch. Das ist aber eine eigene Geschichte. Ein Fall, den wir in Österreich insbesondere gut verstehen müssen, denn das war schon mit Österreich der Fall. Österreich war vor 1955 den Russen das Vorfeld gegenüber wiedererstarkten Westen.
Als die NATO gegründet wurde und ihre eigene Verteidigungslinie durch Deutschland und Italien aufgestellt hat, hat der NATO ein Stück gefehlt. Das waren die Schweiz und Österreich. Die Frage war, was macht man mit denen? Eisenhower hat hier eine sehr klare Linie gezogen, bei einem Frühstück mit dem Außenminister im Weißen Haus: „Wenn die Österreicher so neutral werden wie die Schweizer, dann können wir sie ruhig in die Neutralität entlassen. Denn die Schweizer würden sich verteidigen, wenn die Russen kämen. Sie würden so hart kämpfen, als wären sie in der NATO. Sie würden keine Sekunde zögern, ihre Heimat zu verteidigen. Wenn die Österreicher auch hart kämpfen würden und ihre Neutralität verteidigen, dann können sie ruhig neutral werden.“ Das war die Zustimmung des Westens zur Neutralität Österreichs.
Dann wurde dies bei der Außenministerkonferenz von Berlin den Russen entgegengebracht. Die Russen haben gesagt: „Ja, das soll so sein. Aber wir müssen Acht geben.“ Warum haben sie dem zugestimmt? Sie haben gesehen, wenn sie das Konzept nicht akzeptieren, werden sie Österreich verlieren. Denn die österreichische Regierung – die Vier-Mächte Besetzung war noch voll intakt – hat schon mit der NATO öffentlich abgesprochen gehabt, dass 100.000 Österreicher, die im Zweiten Weltkrieg gegen Russland Kampferfahrung gesammelt haben, im Kriegsfall eingezogen werden und auf der Seite des Westens eingesetzt werden. Die sollten nach Norditalien gebracht werden und dort ausgebildet werden. Praktisch als Hilfstruppe der NATO. Das hat Russland natürlich ganz genau gesehen und das wollte man verhindern. Mit der Neutralität Österreichs war es also ein kluger Schachzug, dies zu verhindern.
Die Italiener waren nicht erfreut, dass Österreicher in Italien ausgebildet werden. Wo hätte man sie ausbilden können? Südtirol ging nicht. Man hätte sie also nach Tunis gebracht. Aber darüber waren die Österreicher wieder nicht sehr erfreut.
Jedenfalls haben die Russen bemerkt, dass da ein Spiel im Gange ist und dies gegen sie ausgeht, wenn sie dem nicht nachgeben. Mit der Neutralität war die Grundlage für den Staatsvertrag gegeben.
Auf der anderen Seite gibt es von Europa die Kritik an Russland, dass die Medien und die Gesellschaft in Russland vor allem in den letzten acht Jahren immer stärker eingeschränkt wurden. Zum einen, ist es ihrer Meinung nach ein Hindernis für die Europäisch-Russischen Beziehungen; und zum anderen, wie soll man damit aus europäischer Sicht umgehen?
Alles, was freiheitsbeschränkend ist, ist ein Hindernis. Die Europäer berufen sich dabei auf Russlands Beitritt zum Europarat. Der ist ja schon lange früher erfolgt. Dort gibt es Grundsätze. Die Mitgliedsstaaten haben sich zu Freiheit und freier Meinung verpflichtet. Darauf berufen sich die Europäer auch ganz heftig: Putin sei Europa etwas schuldig, denn als Mitglied des Europarats ist man zur Demokratie verpflichtet. Putin kümmert das aber wenig. Er zieht seinen Stil einsam durch, bis hin zum Mordanschlag auf Nawalny. Damit muss Europa in irgendeiner Form leben und mit diesem Regime zu Rande kommen.
Sie haben bereits die Wichtigkeit der Russischen Rolle in Europa erwähnt. Wenn wir uns die Maßnahmen gegenüber Russland anschauen – zum Beispiel Sanktionen – dann hat man das Gefühl, dass wir in Europa und generell im Westen mit doppelten Maßstäben messen. Wir haben einerseits ganz gute Beziehungen mit der Türkei, die immer aktiver im Mittelmeerraum und im Nahen Osten eingreift. Hier gibt es keine Sanktionen. Wir haben auch gute Beziehungen zu Saudi-Arabien, wo es schwere Menschenrechtsverletzungen gibt. Andererseits sanktionieren wir Russland. Wie würden Sie das bewerten?
Das sind sicherlich zwei Maße, gar keine Frage. Hier entscheidet die EU praktischerweise nach ihren eigenen Bedürfnissen. Dass die Sanktionen in Russland nicht sehr wirksam sind, nicht gut für die Wirtschaft sind und in Wirklichkeit keine gute Waffe sind, haben sie schon kapiert. Gegenüber Sanktionen wegen Nawalny gibt es erheblichen Widerstand in der Europäischen Union. Wir können nicht alle zwei Jahre eine Linie erneuern oder verändern. Das ist eine Richtung, die uns eigentlich selbst schadet und nichts bringt. Wirtschaft ist eine andere Geschichte. Wirtschaft kann und darf man nicht mit Politik verwechseln. Ich bin auch der Meinung, dass die Sanktionen nicht sehr wirksam sind, eher schadend. Sie vergiften die Atmosphäre.
Natürlich wird man es hinnehmen müssen. Eine totale Übereinstimmung in der EU herrscht zwischen allen Mitgliedsstaaten, dass man gegenüber Russland wegen des Mordversuchs an Nawalny Strafmaßnahmen verhängen muss. Aber in Wirklichkeit muss uns etwas Besseres einfallen. Man muss die Russen endlich auch einmal politisch ordentlich zwicken. Ich wäre viel eher dafür, eine politische Konfrontation mit Putin anzustreben.
Österreich hat mit Russland spezielle geschichtliche Verhältnisse. Man ist nicht nur ein neutrales Land, sondern hatte auch historische Einflüsse sowohl aus dem Westen als aus dem Osten. Auch aus der Heiligen Allianz heraus. Das heißt, man hat hierzulande schon immer eine Art Brückensituation gehabt und beide Seiten ganz gut verstanden – im Gegensatz zur doch eher westlich geprägten Schweiz. Glauben Sie, dass Österreich in dieser Konfrontation zwischen Russland und Europa eine aktivere Brückenfunktion einnehmen sollte?
Ich bin der Meinung, dass Österreich in einer außerordentlich guten Position in diesem Konflikt ist. Es könnte tatsächlich sehr gut vermitteln. Ich war sehr überrascht, dass der Ukraine-Konflikt eindeutig ausgegangen ist. Die Ukraine wollte zur EU, Putin sagt Nein. Er hat sie zurückgehalten und ihr praktisch empfohlen, nicht beizutreten. In Kiew kam es sogar zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Es ist schon eine Gelegenheit, dass Österreich in seiner Position als Vermittler auftritt. Sehr Ähnliches ist uns ja schon passiert. Im Jahr 1957 haben die westeuropäischen Staaten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den Römischen Verträgen gegründet. Österreich wollte auch dazu. Ich war selbst Zeuge davon, denn ich war bei Bundeskanzler Raab zu einem Gespräch und er sagte zu mir: „Wir gehen dazu.“ „Wozu?“, habe ich gefragt. „Zur Wirtschaftsunion.“ „Und was sagen die Russen dazu?“ „Die werden nicht gefragt“, meinte er. In dem Moment, in dem er mit der Idee in die Öffentlichkeit gegangen ist, waren die Russen schon da und haben interveniert. Es sei ein Bruch des Staatsvertrags – ein Bruch des Vertrages, den die Sowjetunion mit Österreich unterzeichnet hat. Denn, wer sich der Europäischen Wirtschaftsunion anschließt, schließt sich Deutschland an. Österreich musste das befolgen – Hände weg von der EWG. Das war eine Lektion.
Genau dasselbe hat die Ukraine versucht. Die wollte auch zu Europa gehen, die Russen haben das verhindert. Sie wollen nicht, dass auf ehemaligen Sowjetischen Stammgebieten in der Ukraine ein neuer, blühender demokratischer und europäischer Staat entsteht, der praktisch in Konkurrenz mit Russland ist. Sie wollten nicht, dass man ein europäisches Projekt errichtet. Das war Putin zu viel. Mit Recht, meiner Ansicht nach. Diese Konkurrenz würde Russland nur schwer ertragen.
Abgesehen davon, dass sie den Donbass – die Kohlegruben in der Ostukraine – mit allem, was dazugehört – mit den Stahlwerken, durch die alle russischen Raketen erbaut wurden, verloren hätten. Der Donbass wäre weggebrochen. Die Ukraine hat darauf keine Rücksicht genommen. Das wäre, als wenn man Deutschland sagen würde, sie müssten auf das Ruhrgebiet verzichten. Wenn man nicht versteht, dass Russland hier ein ureigenes Interesse hat, dass man in einer Form berücksichtigen muss, wird man keinen guten Frieden schließen können. Man hätte das mit Sonderbestimmungen ausarbeiten müssen. Die Ukraine braucht nicht nur einen Vertrag mit Europa, sondern auch mit Russland.
Sie haben eine lange und reiche journalistische Karriere durchlebt und dabei viele Länder bereist – von den USA bis zu China. Was war Ihre schönste Erfahrung in all diesen Reisen?
Tief beeindruckt hat mich meine Reise mit dem Bundeskanzler Raab durch die USA. Ich habe den Kanzler als einen großartigen vorausdenkenden Politiker kennengelernt. Er hat Dinge gemacht, die wir überhaupt nicht verstanden haben. Erst im Nachhinein habe ich sie erst verstanden. Ein Beispiel:
Wir sind vom State Departement an einem Wochenende in Florida eingeladen worden. Man hat uns ein Auto geschickt, damit wir uns Florida anschauen können. Wir sind dann ganz unten am Ende von Florida in Key West angekommen – der letzte amerikanische Stützpunkt in Florida. Auf einmal biegen diese Autos in ein großes Parkgelände ein. Im Parkgelände steht ein langgezogenes Gebäude. Wir sind also ausgestiegen und in das Gebäude hineingegangen. Empfangen wurden wir in einem großen Saal. In der Mitte steht ein gedeckter Tisch voll mit allen möglichen Speisen. Um den Tisch herum stehen Frauen und Männer. Die Männer alle in weißer Uniform. Raab – ein anständig erzogener Mensch – fängt an, sich den Leuten entlang mit „Raab“, „Raab“, „Raab“ vorzustellen. Dann fragt er mich: „Wo sind wir hier?“ Ich dreh mich um und hinter mir steht der Mann vom State Department. Er antwortet mir, dass wir im Hauptquartier der amerikanischen Marine in der Karibik sind. „Aha“. Ich habe dann dem Kanzler gesagt: „Hauptquartier der amerikanischen Marine in der Karibik.“ „Raab“, „Raab“, „Raab“, hat er sich weiter vorgestellt. „Und wie geht es weiter?“ Der Mann vom State Department meinte, es wäre ein Essen mit dem Herrn Bundeskanzler geplant, und danach wäre der Herr Bundeskanzler eingeladen, auf einem der amerikanischen Kriegsschiffe zur See zu stechen und die amerikanische Marine zu inspizieren.
Ich habe das dem Raab so schnell wie möglich gesagt: „Nach dem Essen Kriegsschiff.“ „Raab“, „Raab“, „Raab“ – so hat er seine ganze Runde beendet. Beim letzten dreht er sich um und läuft einfach weg. Ich laufe ihm natürlich nach. Er sagt: „Wo ist unser Auto? Wo ist unser Auto?“ Unser Auto ist dann gekommen. „Wohin?“, fragte der Chauffeur. „Fahren Sie einfach los, egal wohin.“ Nach einer Weile fragt Raab: „Wo gibt´s hier ein Beisl?“
Der Chauffeur hat uns dann zu einem Fischrestaurant in Key West gebracht. Im Gastraum war ein Ständer mit Postkarten. Raab geht zum Ständer hin und sucht sich eine heraus, kommt zurück zum Tisch und fängt an zu schreiben: „An Herrn Außenminister Leopold Figl. Wien. Österreich.“ Auf der Postkarte war zu sehen, wie ein Delfin in einem Bassin hochspringt. Oben steht ein Mann mit einem Fisch und der Delfin springt nach diesem. Raab schreibt: „Lieber Leopold. Lass die Roten so springen wie diesen Fisch. Es grüßt dich dein Freund Julius Raab. Bundeskanzler.“
Als ich ihn dann in Wien darauf angesprochen habe, dass das State Departement Kopf gestanden ist, weil die ganzen Vorbereitungen umsonst waren, meinte er: „Was glauben Sie, wenn ich auf einem Kriegsschiff mit den Admirälen stehen würde, hätte mir der Molotow die Bündnisfreiheit glatt geglaubt.“ Er hat da gut mitgedacht. Wenn es zu einem Staatsvertrag kommt, muss er das Vertrauen der Russen haben. Er hat nicht zugelassen, dass das verletzt wird.
Genauso in New York: Dort ist ein Motorradfahrer vom französischen Ministerpräsidenten Mendès France gekommen: „Er wünsche ein Gespräch mit dem Herrn Bundeskanzler.“ Frankreich war auch eine Besetzungsmacht, Raab musste dort hingehen. Als er zurückkam, sind wir in den Zug nach Washington eingestiegen und Raab hat von New York bis Washington kein Wort gesagt. Kein Wort, was er mit Mendès France besprochen hatte. Erst in Wien, als ich ihn darauf angesprochen habe, meinte er, Mendès France wollte eine große Offensive in der UNO für die Unterzeichnung des Staatsvertrags. „Und da waren Sie dagegen?“ „Schauen Sie“, sagte er, „Wenn wir das machen, hätten wir den Russen angeboten, sie können mit den Truppen in Österreich solange bleiben, wie sie wollen. Wir hätten einen schönen Staatsvertrag gemacht und die Truppen wären mit der Zeit reduziert worden. Der letzte russische Trupp wäre in Oberösterreich geblieben und der wäre erst abgezogen, wenn man auch mit Deutschland eine Lösung gefunden hätte.“ „Wie haben Sie darauf reagiert?“, fragte ich. „Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage! Einen Staatsvertrag abschließen und die Russen weiter im Land haben, das kommt nicht in Frage. Aber schwer war es für mich schon. Was werden die Niederösterreicher und die Wiener sagen, wenn sie hören, die hätten sich zurück nach Oberösterreich gezogen, und ganz Ostösterreich wäre frei gewesen. Das könnte schwer für mich werden.“ Aber er hat auch hier ganz genau überlegt.
Er hat auch nicht nachgefragt. Er war ja in einer Koalition mit den Sozialdemokraten und hätte in Wien fragen müssen, was die vom Plan des Mendès France halten. Aber es war nicht einmal die Rede, die Sozialdemokraten einzubeziehen. Er hat das glatt abgelehnt.
Als es einmal eine große Pressekonferenz gegeben hat, hat er alles Mögliche erwähnt, nur das Erdöl von Zistersdorf nicht. Ich habe gedacht, er hat es einfach übersehen. Wir haben das Erdöl immer als russische Beute aufgezählt. Ich habe seine Rede ins Englische übersetzt und das Erdöl miteingeschlossen. Das hat er aber genau kapiert, mich gepackt und gesagt: „Ka Öl!“ Ich musste es herausnehmen. Warum? Er hat genau gewusst, dass wir das den Sowjets hätten verkaufen müssen. Er hat sich sehr gut überlegt, wie wir das frei bekommen.
Wir bedanken uns bei Hugo Portisch für das Gespräch.
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