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Die Idee hierzu kam mir schon in den Sinn, noch bevor man begann, sich über die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie Gedanken zu machen. Noch bevor Banken und Unternehmen ihre Gewinnprognosen nach unten korrigieren mussten. Noch bevor Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Mitte März von der „Mutter aller Rezessionen“ sprach.[1]

Die Frühjahrsprognose der EU-Kommission geht von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung des Euroraums zwischen 4,25% (Polen) und 9,75% (Griechenland) aus. Österreich liegt mit einem für das Jahr 2020 prognostizierten Minus von 5,5% noch vergleichsweise „gut“ im Rennen. 2021 soll sich die Wirtschaft dann um 5% erholen. Die Arbeitslosenquote steigt heuer von 4,5% des Vorjahres auf 5,8%, bevor sie sich 2021 bei 4,9% einpendelt. Alle derzeitigen Prognosen klammern die Möglichkeit einer zweiten Welle aus.[2]

Noch scheint es also zu früh, von Chancen zu sprechen. So einiges ist ungewiss und an den abstrakten Zahlen hängen die Einzelschicksale vieler. Wir stehen erst am Anfang, es fällt uns schwer, so weit in die Zukunft zu blicken. Aber Gott sei Dank sind wir Meister darin, der Vergangenheit nachzutrauern. Früher war alles besser? Ja und Nein. Es geht den unteren zehn Prozent unseres Landes so gut wie nie zuvor, gleichzeitig aber fühlt man sich immer unglücklicher. Korreliert das Wohlbefinden also negativ mit dem Einkommen? Wohl kaum. Man sagt zwar, Geld alleine macht nicht glücklich, aber ein paar Flaschen Rotwein oder ein Thermenausflug machen sich doch bezahlt.

Wenn man vom BIP spricht, dann bezieht man sich normalerweise auf das reale BIP, welches mit konstanten Preisen operiert. Es ist unabhängig von Preisschwankungen und wird weder von Inflation noch von Deflation beeinflusst.

Worauf will ich also hinaus? Wir erleben seit fast sieben Jahren ein kontinuierliches Wachstum der Weltwirtschaft und das nicht nur in Österreich, sondern in großen Teilen der Welt. Die Wirtschaftsleistung wird mittels Bruttoinlandsprodukt (BIP) angegeben, die Wachstumsrate lässt sich davon ableiten. Kurz gesagt, erfasst das BIP den Wert aller während einer Periode produzierten Waren und Dienstleistungen. Wenn man vom BIP spricht, dann bezieht man sich normalerweise auf das reale BIP, welches mit konstanten Preisen operiert. Es ist unabhängig von Preisschwankungen und wird weder von Inflation noch von Deflation beeinflusst. Die Herbstprognose 2019 der EU-Kommission rechnete in Österreich übrigens mit einem Anstieg des realen BIP von jeweils 1,4% in den Jahren 2020 und 2021.[3] Das tatsächliche Minus für 2020 beträgt also 6,9% anstelle der oben erwähnten 5,5%.

Doch aufgrund der derzeitigen Entwicklungen lassen sich die konjunkturellen Veränderungen zwar vorhersehen, nicht aber vorhersagen. Der Monatsbericht der Deutschen Bundesbank (September 2018) gesteht etwa in einer Fußnote ein, dass „selbst bei nahezu vollem Informationsstand kurz vor der BIP-Veröffentlichung [..] keines der Modelle die Schwere des Wirtschaftseinbruchs Ende 2008 angezeigt“ hätte.[4] Der allgegenwärtige Informationsmangel erklärt auch, weshalb weder das Brückengleichungsmodell, noch das Faktormodell, das VAR-Modell oder andere Modelle sinnvolle Prognosen zu den Auswirkungen einer potenziellen zweiten Welle liefern können. Das wäre Kaffeesudlesen – aber sogar ohne Kaffeesud.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat dennoch einen Blick in die Zukunft gewagt. Genauer gesagt aus der Zukunft zurück ins Heute. Nicht in Form einer Prognose, sondern mittels RE-Gnose. Dadurch sehen wir nicht nur die Gefahren und Probleme, die auf uns zukommen, wir setzen uns auch mit dem inneren Wandel auseinander. Es entsteht ein Zukunfts-Bewusstsein, eine Brücke zwischen heute und morgen. Zwei Fremdwörter sind für eine bessere Erklärung nötig. Das Wort ‚Krise‘ (krísis) stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie Entscheidung oder Wendepunkt. ‚Coping‘ hingegen heißt etwas zu bewältigen. Matthias Horx spricht in seiner Kolumne[5] vom Coping-Gefühl. Das Gefühl, eine Krise bewältigt zu haben. Wir sind nicht mehr starr vor Angst, sondern gespannt auf das Kommende, auf das Neue. Das Angst-Adrenalin weicht dem Dopamin und wir fühlen uns wieder lebendig und voller Lebenslust. Dieses Coping-Gefühl lässt sich dann doch nicht mit Geld kaufen. Genauso wenig wie viele andere Dinge: Familie, Freunde, Liebe, der Duft des Frühlings, ausgiebige Spaziergänge im Wald und das Gefühl recht zu haben. Es gibt so vieles, das nicht im Bruttoinlandsprodukt erfasst ist. Wir sind nun einmal keine blechernen Maschinen. Noch besitzen wir die Fähigkeit, das Schöne im Detail zu erkennen. Das sollten wir uns nicht selbst weg-evolvieren. Die starren Wirtschaftsprognosen der EU-Kommission und des WIFO werden nie verstehen, wie es sich für ein Kind anfühlt, wenn es zum ersten Mal wieder zu schneien beginnt. Wie es ist, wenn in Salzburg die Magnolien zu blühen beginnen. Sie werden auch nicht verstehen, dass viele Mütter freiwillig auf ein höheres Gehalt verzichten – gerade wegen des Gefühls, Mutter zu sein.

Krieg und Zerstörung scheinen positiv im BIP auf, denn sie kurbeln die Rüstungsindustrie an. Nicht zu vergessen sind wichtige Umweltfaktoren, welche kaum berücksichtigt werden. Es sei denn, man kann daraus Profit schlagen.

Was sie aber verstehen sollten, sind die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, wenn man ununterbrochen dem ewigen Wachstum huldigt. Das BIP ist treibende Kraft vieler Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten. Hausarbeit, Pflege oder Kindererziehung fließen nicht in das BIP ein. Das trifft hauptsächlich Frauen. Mütter, die sich zwar an ihren hübschen Kindern ergötzen könnten, gleichzeitig aber um ihre Existenz fürchten müssen. Krieg und Zerstörung scheinen positiv im BIP auf, denn sie kurbeln die Rüstungsindustrie an. Nicht zu vergessen sind wichtige Umweltfaktoren, welche kaum berücksichtigt werden. Es sei denn, man kann daraus Profit schlagen. Das Bruttoinlandsprodukt ist blind, es kennt keine Moral. ‚Quantität vor Qualität‘ als Motto, ‚Augen zu und durch‘ als Credo. Aber jetzt geht es dem BIP schlecht. Es ist krank und verliert an Gewicht, Finanzspritzen helfen auch nur bedingt. Gott sei Dank kümmern sich viele in dieser Zeit eher um ihre Angehörigen, ihre Freunde und Nachbarn als um die Höhe ihres Gehaltsschecks. Natürlich bleibt trotzdem die Sorge um den Arbeitsplatz und das ausbleibende Einkommen, viele Familien trifft es hart. Aber man merkt auch, dass diese Krise ein neues Bewusstsein schafft.

Darum möchte ich noch einmal auf Matthias Horx zurückkommen. Sein ‚Wir werden uns wundern‘ ist, wenn man so mag, das ‚I have a dream‘ des 21. Jahrhunderts. Für ihn sind Verzichte keine Verluste, diese können sogar neue Möglichkeiten schaffen. Nun haben wir die Zeit, alte Freunde wieder häufiger zu kontaktieren, dem Gegenüber auch einmal aktiv zuzuhören und in der Familie näher zusammenzurücken. Ein User-Kommentar im Standard meinte sinnbildlich zur Corona-Krise, dass wohl alle Ehen, die dann noch nicht geschieden seien, für immer halten würden. Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen kann, ohne dass sie tatsächlich zusammenbricht. Auch die Vermögensverluste durch den Einbruch der Börsen werden weit nicht so schmerzen wie angenommen. Andere Dinge rücken in den Mittelpunkt. Für Matthias Horx scheinen gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten das Nonplusultra zu sein. Für andere vielleicht die ersten Sonnenstrahlen am Morgen oder die neue große Liebe. Wer weiß das schon?

Wollen wir hoffen, dass das Bruttoinlandsprodukt, wenn es wieder genesen ist, auch ein neues Bewusstsein entwickelt. Dass ihm die Augen geöffnet werden. Vielleicht braucht es dazu auch einen neuen Namen, wie bei vielen Transformationsprozessen. Wir wären bereit dafür. Es gibt bereits Alternativen, etwa das Umwelt-BIP, den Wohlstand-der-Nationen-Index der Weltbank, den Better-Life-Index (BLI) oder das Bruttonationalglück. Diese sind noch in der Frühentwicklung, aber sie werden an Bedeutung gewinnen. Irgendwann wird sich ein Index durchsetzen, das BIP verdrängen und der Moral eine Stimme geben. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café im 22. Jahrhundert und fragen sich, was man mit der Einkommensschere alles schneiden konnte und ob der Gender Pay Gap eigentlich vor oder nach dem Disco-Fox in Mode war? Das wäre eine gelungene RE-Gnose.


 

[1]https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/coronavirus-oekonom-felbermayr-erwartet-die-mutter-aller-rezessionen/25654514.html

[2]https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_799

[3]https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_19_6215

[4]https://www.bundesbank.de/resource/blob/759808/108fff5965e857e2c09fb09a1144fa43/mL/2018-09-konjunkturprognose-data.pdf, S.29

[5]https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/

Lukas Bayer
Lukas hat in Salzburg den Bachelor Philosophie, Politik und Ökonomie abgeschlossen. Seit Ende 2020 studiert er Global Studies an der KF Graz und beschäftigt sich vor allem mit ökonomischen und umweltspezifischen Themen, sowie mit Fragen sozialer Gerechtigkeit.

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