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Als sich der Bundessprecher der Grünen und nunmehrige österreichische Vizekanzler Werner Kogler bei der Präsentation des Regierungsprogrammes Anfang des Jahres den Entschluss zur Bildung einer – wie er selbst konzedieren musste – doch recht unkonventionellen Koalition aus ÖVP und Grünen zu begründen anschickte, tat er dies mit einem Verweis auf die politische Großwetterlage: Europaweit seien derzeit zwei Parteienfamilien auf dem Vormarsch. Einerseits die Grünen, beflügelt durch das wachsende Bewusstsein um die lange Zeit verkannte Dramatik der Klimakrise, und andererseits eben die „neuen Konservativen“, personifiziert durch seinen Bündnispartner Sebastian Kurz und dessen einst schon totgesagte, nun aber von Grund auf revitalisierte Volkspartei. Schon allein deshalb, so Koglers etwas schicksalhafte Argumentation, müsse man das „Wagnis“ eingehen, diesen „Pionierweg“ zu beschreiten

Unabhängig davon, wie man persönlich zu Türkis-Grün steht, wird man seiner Beobachtung in diesem Punkt kaum widersprechen können. Im europäischen, aber auch internationalen Vergleich, lässt sich durch eine Reihe unerwarteter Wahlerfolge demonstrieren, dass der Konservatismus keineswegs auszusterben droht, sondern dem Lazarus gleich mit kräftigen Lebenszeichen abrupte Schockwellen durch die politische Landschaft sendet: Neben der aus ihrer großkoalitionären Resignation erwachten und im Eiltempo runderneuerten ÖVP, konnte auch die nicht erst seit dem Brexit tausendmal totgesagte britische Conservative Party erst kürzlich mit einem Erdrutschsieg überraschen. Im Osten Europas wiederum bekommt die politische Linke gegen sich als Gralshüter des christlichen Abendlandes gerierende Platzhirschen wie Viktor Orbán keinen Fuß auf den Boden, und auf der anderen Seite des Atlantiks steckt den einst siegesgewohnten Demokraten das Underdog-Comeback der US-Republikaner im Jahr 2016 noch merklich in den Knochen. Die triumphalistische Rhetorik, mit der Barack Obama seinen rechten Gegnern im Kongress die vermeintliche Vergeblichkeit ihrer Widerspenstigkeiten vorzuhalten pflegte („you’re on the wrong side of history“), wirkt heute wie ein schwaches Echo aus ferner Zeit. Nicht ohne Genugtuung konnte der konservative Kommentator Rich Lowry am Vorabend der Amtseinführung Donald Trumps den Spieß umdrehen und in Richtung der Linksliberalen sticheln: „History strikes back.“

Gibt man sich im Kreise von Freunden, Bekannten, Studien- oder Arbeitskollegen als Konservativer zu erkennen, wird dies zwar nur selten mit offener Feindseligkeit, aber doch häufig mit kaum verhohlenem Befremden quittiert.

Trotz der mannigfaltigen Omen seiner politischen Renaissance, haftet dem Konservatismus weiterhin ein paradoxer Makel an: So sehr ihm auch in der Abgeschiedenheit der Wahlurne die Herzen zufliegen mögen, so wenig gewinnt er darüber hinaus an öffentlichkeitstauglichem Sozialprestige. Gibt man sich im Kreise von Freunden, Bekannten, Studien- oder Arbeitskollegen als Konservativer zu erkennen, wird dies zwar nur selten mit offener Feindseligkeit, aber doch häufig mit kaum verhohlenem Befremden quittiert.  Das Ausmaß des Unverständnisses verhält sich dabei meist umgekehrt zum Alter: Gerade im Kreise von „Millennials“ muss man sich dann die Frage gefallen lassen, wie man als jemand, der doch noch das gesamte Leben vor sich habe, denn so sehr in der Vergangenheit verhaftet sein könne. Selbst Sebastian Kurz, der gerne als lebender Gegenbeweis ins Treffen geführt wird, reagiert in solchen Situationen gern relativierend: In einem TV-Interview gab er einmal zu Protokoll, er sei zwar ein liberaler und christlich-sozialer, aber „kein sonderlich konservativer Mensch“. Und auch bei der älteren Generation, die üblicherweise den demographischen Stützen des politischen Konservatismus zugerechnet wird, findet man mit dieser Selbstbeschreibung nicht notwendigerweise Zuspruch. So mancher ergraute Grandseigneur des bürgerlichen Lagers entsinnt sich, obwohl durch Lebenserfahrung eines Besseren belehrt, dann selbst nicht ohne Wehmut des verlorenen Idealismus seiner Sturm-und-Drang-Jahre, als wollte er sagen: Zum Konservativsein hast du später noch Zeit genug, mit Anfang oder Mitte 20 muss man nun wirklich noch nicht so „altvatrisch“ sein.

Da Konservative für sich gerne den Wesenszug einer realistischen Weltanschauung in Anspruch nehmen, sind sie sich dieser Verfemung meistens bewusst. Der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila, dessen Aphorismen für einen bestimmten Schlag von Konservativen (aber auch unter kulturkritischen Linken) als Geheimtipp gelten und von diesen mit beinahe verstohlener Freude unter der Hand ausgetauscht werden, als handele es sich um geistige Schmuggelware, versah seine Werke mit für diese Haltung bezeichnenden Titeln wie „Aufzeichnungen des Besiegten“ oder „Auf verlorenem Posten“. Man muss aber gar nicht eine für das moderne Empfinden so exzentrische Figur wie den selbsternannten „Reaktionär“ Dávila bemühen, um Belege für diese etwas schwermütige Eigenwahrnehmung zu sammeln:Vom ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon, neben seinem französischen Pendant Charles de Gaulle wohl der größte Gottseibeiuns der 68er, stammt der seither tausendfach rezitierte Appell an die „silent majority“, der Mehrheit der unglamourösen, aber rechtschaffenen Staatsbürger, mit dem aus der Not des ideologischen Schamgefühls die Tugend der politischen Mobilisierung gemacht werden sollte. Im Vereinigten Königreich firmiert dieses Phänomen unter dem ursprünglich aus der Meinungsforschung stammenden Begriff des „shy Tory factor“, mit dem britische Konservative in Wahlkampfzeiten auch heute noch gerne kokettieren.

Soweit zu den tagespolitischen Rahmenbedingungen und der (hier zugegeben laienhaft skizzierten) sozialpsychologischen Seite der konservativen Existenz. Doch worin bestehen nun eigentlich die Merkmale des konservativen Denkens? – In gar nichts, tönt es auf diese Frage gerne hämisch von den Verächtern des Konservatismus, denn der Geist stehe bekanntlich links, und der Konservative demonstriere mit seiner Liebe zum Bestehenden ja geradezu das Gegenteil intellektueller Aktivität. Wer so verkürzend argumentiert, offenbart freilich nur seine eigene Denkfaulheit, denn die bedingungslose Bejahung des Status quo, wie er auch immer beschaffen sein mag, würde auf geradezu bizarre Konsequenzen hinauslaufen: Auch ihre erbittertsten Gegner können sich kaum ernsthaft zur Behauptung versteigen wollen, eine konservative Geisteshaltung hätte anno 1989 beispielsweise den Erhalt des sozialistischen Regierungssystems der ehemaligen DDR fordern müssen, oder, um ein zeitnäheres und weniger drastisches Beispiel zu verwenden, müsse jede einmal abgeschlossene und institutionell verinnerlichte Kompetenzübertragung von den Nationalstaaten an die Europäische Union verteidigen. Somit steht fest, dass der Konservatismus, ob man ihn nun goutiert oder nicht, jedenfalls über größeren philosophischen Tiefgang verfügen muss, als es das von ihm gezeichnete Zerrbild eines Credos für bornierte Betonschädel, über das sich Linke und Liberale so gerne amüsieren, suggeriert.

Den universellen Konservatismus, der unabhängig von Zeit, Ort und Sachlage eine gesellschaftliche Blaupause liefern könnte, gibt es schlicht und ergreifend nicht.

Den Konservatismus eindeutig definieren zu wollen, ist allerdings ein delikates Unterfangen – zumal eines, das gerade seinen Fürsprechern am stärksten widerstreben dürfte. Die Grundannahmen, Prinzipien, Werte, Ideale und übrigen Kategorien, über die sich Ideologien beschreiben lassen, können im Falle des Konservatismus nicht allein im Abstrakten formuliert werden (einer seiner wichtigsten Vordenker in den USA, Russell Kirk, stellte sogar die These auf, dass es sich bei ihm überhaupt nicht um eine Ideologie handele, sondern um eine gezielt kultivierte, geistige Empfänglichkeit für die Lehren der Vergangenheit und deren Bedeutung für die Gegenwart). Den universellen Konservatismus, der unabhängig von Zeit, Ort und Sachlage eine gesellschaftliche Blaupause liefern könnte, gibt es schlicht und ergreifend nicht. Das unterscheidet ihn auf ganz grundsätzlicher Ebene von Liberalismus und Sozialismus, wie ein kurzes Gedankenexperiment verdeutlichen soll: Träfen sich ein französischer und ein chinesischer Liberaler an einem bisher unberührten Fleck der Erde und würden damit beauftragt, dort eine politische Ordnung zu errichten, so dürften sie sich in den Grundzügen schnell einig werden und eine Verfassung Locke’scher Prägung vorlegen, die zentrale Eigentums- und Persönlichkeitsrechte des Individuums anerkennt, die sich vernunftbasiert dem Naturrecht entnehmen lassen, sich einer Regulierung des gesellschaftlichen Lebens aber ansonsten weitestgehend enthält. Ebenso schnell würden sich wohl ein schwedischer und argentinischer Sozialist auf eine kollektiv gelenkte Wirtschaft und ein hohes Maß an ökonomischer Gleichheit einigen.  Ganz anders würde das  Aufeinandertreffen zweier Konservativer unterschiedlichen Hintergrundes verlaufen, und das selbst im Falle einer engen historischen Verwandtschaft: Ein amerikanischer „Republican“ und ein britischer „Tory“ würden sich allein schon darüber in die Haare kriegen, ob ein Monarch oder ein gewählter Präsident an der Spitze des Staates stehen, und ob die Rechtsordnung auf geschriebener oder ungeschriebener Verfassung, auf wortlautgetreuem „originalism“ oder auf improvisiertem „common law“ beruhen soll.

Allgemeiner formuliert lässt sich das eben Gesagte damit auf den Punkt bringen, dass der Konservatismus keinen politischen „Masterplan“ kennt, sondern zunächst einmal mit dem arbeitet, was er vorfindet – wobei sich sein Horizont dabei, und das ist der entscheidende Punkt, nicht auf die unmittelbare Gegenwart und den darin vorherrschenden Zeitgeist beschränkt, sondern auf das gesamte geistige, kulturelle, philosophische und auch spirituelle Erbe der Zivilisation, in der er sich wiederfindet. Dieses Erbe versteht der Konservative nicht nur als Ansammlung von kuriosen Artefakten mit bestenfalls historischem Wert, sondern als Gesamtverzeichnis der im Verlauf der Geschichte gesammelten Erkenntnisse der Menschheit und somit als Quell einer Weisheit, die jene der individuellen Vernunft, und sei diese noch so genialisch, unendlich übersteigt. Bei der Lösung politischer Fragestellungen gilt es, dieses unerschöpfliche Reservoir gezielt anzuzapfen: Dies bedeutet unter anderem, die Rolle von vordergründig undurchdringlichen, aber deshalb noch lange nicht sinnlosen Traditionen und Konventionen als dezentrales gesellschaftliche Regelwerk schätzen zu lernen, in den Diskurs mit den Klassikern einzutreten, und auch die Religion als Strukturelement einer organischen Gesellschaft  schätzen zu lernen – all das zwar mit der Bereitschaft zur kritischen Reflexion, aber immer auch der gebührenden Portion Ehrfurcht vor der Tatsache, auf den Schultern von Riesen zu stehen. Angelehnt an den konservativen Philosophen Patrick Deneen („Why Liberalism Failed“) handelt es sich bei dieser Praxis eigentlich um nichts anderes als das klassische Bildungsideal, das vom individuellen Erkenntnisstreben hin zu den Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erweitert wird.

Das kann sogar so weit gehen, dass konservatives
Denken fallweise liberale oder gar sozial- demokratische Spurenelemente absorbiert, ohne aber deren ideologischen Ballast mit zu übernehmen […]

Anhand dieser Überlegungen sollte nun auch klarwerden, was etwa ein Abraham Lincoln – den eine von seiner Parteizugehörigkeit zu den Republikanern irritierte Nachwelt mitunter fälschlich zu einem Protoprogressiven umzudeuten versucht – meinte, wenn er auf die Frage „What is conservatism?“ fast schon lapidar feststellte: „Is it not adherence to the old and tried, against the new and untried?“ Diese Einsicht ist keineswegs so banal, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, denn das Alte und Bewährte, auf das sie verweist, bezeichnet nichts Geringeres als die Grundgesamtheit jener vorläufigen Antworten auf die ewigen Probleme der Menschheit, die von ungezählten Generationen einer Weitergabe für würdig befunden wurden; wenn auch in fragmentarischer, verschlüsselter oder mythologisch kodierter Form. So besehen, erhellt sich auch das fast schon mystische Diktum von Edmund Burke, dem „father of conservatism“, in dem er von der Gesellschaft als „a partnership of the dead, the living and the unborn“ sprach – ein Ausspruch, der nichts mit ahnenkultischem Aberglauben, aber viel mit der Pflicht zu einem treuhänderischen Umgang mit ererbten und zur Weitergabe bestimmten Wissensbeständen zu tun hat. Auch hier gilt es zu beachten, dass es sich bei dieser Transmission um keinen Copy-/Paste-Prozess mit jeweils gleichbleibendem Ergebnis handelt, der jeden Fortschritt verunmöglicht, sondern der besagte Erfahrungsschatz mit jeder Generation anwächst, was auch die Möglichkeit von Korrekturen einschließt. Das kann sogar so weit gehen, dass konservatives Denken fallweise liberale oder gar sozialdemokratische Spurenelemente (wie die Gleichheit vor dem Gesetz oder den Sozialstaat) absorbiert, ohne aber deren ideologischen Ballast mit zu übernehmen – was umgekehrt schwer vorstellbar erscheint. Entgegen seiner Reputation als Ansammlung unwandelbarer Doktrinen, beweist der Konservatismus damit größere Flexibilität als seine Rivalen, die von da aus viel stärker als geschlossene Systeme erscheinen. Der langjährige ehemalige Premierminister Australiens, John Howard, charakterisierte den Konservativen einmal als „someone who doesn’t consider himself morally superior to his grandfather“ – ein Bonmot, das sich aufgrund der beschämenden Ereignisse des letzten Jahrhunderts nicht eins zu uns von der Anglosphäre auf Mitteleuropa übertragen lässt, aber dennoch das „Schneeballprinzip“ der erfahrungsgeleiteten Erkenntniskumulation lebensnah vermittelt.

Das eigentliche Alleinstellungsmerkmal konservativen Denkens als politische Überzeugung ist also die weltanschauliche Integration vorliberaler und prämoderner Elemente, die gleichberechtigt oder zumindest komplementär neben den zeitgenössischen stehen. Ein Beispiel für einen solchen in der Gegenwart unwiderruflich angekommenen, aber dennoch über deren Tücken und Untiefen klarsichtigen „Liberalkonservatismus“, findet sich bei dem französischen Theoretiker Alexis de Tocqueville, der im Gegensatz zum unversöhnlichen „Altkonservatismus“ seines Landsmannes Joseph de Maistre den von der französischen Revolution symbolisierten Zeitenwechsel als fait accompli ansah und einige seiner Errungenschaften (wie die zunehmende Gleichheit der Bedingungen) sogar begrüßte – unter anderem deshalb, weil er die extremen Hierarchien des vormaligen Regimes als letzten Endes widerchristlich betrachtete. Gleichwohl besaß er ein scharfes Auge für die unter der neuen Ordnung bestehenden Gefahren eines Abdriftens in einen trägen, saturierten Individualismus, also einen Rückzug ins Private oder das Streben nach ökonomischen Wohlstand. Wird dem nicht entgegengetreten, kann es zu einer apathischen Atomisierung kommen, was wiederum den gebotenen Widerstand gegen ein neuerliches Anwachsen staatlicher Allmacht schwächt. Als Alternative schwebte Tocqueville die Erhaltung eines aktiven Bürgersinns im Sinne einer regen Anteilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten vor; etwa im Rahmen kleinräumiger, dezentraler politischer Einheiten oder des Vereinswesens. Die dafür notwendigen habituellen Voraussetzungen aber kann das politische System nur schwer selbst generieren, weshalb Tocqueville auch die Bedeutung scheinbar anachronistischer aristokratischer Tugenden sowie der religiös vermittelten Moral hervorhob, um dem Verkümmern von Pflichtgefühl und Selbstdisziplin vorzubeugen (ohne deshalb jemals die feudalen Privilegien des Adels zu verteidigen oder theokratische Illusionen zu unterhalten).

Folgt man Tocqueville, so ist die liberale Demokratie gut beraten, den Zusammenhang zwischen erfolgreicher politischer Selbstregierung und der Fähigkeit ihrer Bürger zur Selbstbeherrschung nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Botschaft zu bewahren und stets aufs Neue zu verkünden, ist zeitloser Auftrag des Konservativen. Traditionelle Werte wie Ehe und Familie, Begriffe wie Ehre, Anstand und Schicklichkeit sowie praktizierte Religiosität haben gemeinsam, dass sie an den Einzelmenschen die Forderung stellen, seine momentanen subjektiven Befindlichkeiten, Neigungen, Bedürfnisse und instinktiven Begehren regelmäßig zu dämpfen und gegebenenfalls auch ein Stück weit zurückzustellen. Über die einzelnen dahinterstehenden Vorstellungen von Ethik und Moral sowie deren Letztbegründung lässt sich trefflich streiten, die grundsätzliche Notwendigkeit eines solchen Bezugsrahmens lässt sich hingegen schwer von der Hand weisen: Auch die Demokratie lebt von ähnlich gestrickten Denk- und Handlungsmustern, so etwa von der Affinität zum Engagement in der Gemeinschaft, der Einhaltung vorgegebener Verfahrensregeln, der Unterordnung persönlicher Präferenzen unter den Kompromiss, der Akzeptanz von anderslautenden Entscheidungen und vom Hinauswachsen über die Perspektive des privaten Einzelmenschen. Die gesellschaftspolitische Alternative zu diesem gemäßigt kommunitaristischen Modell wäre die völlige Subjektivierung aller Werte, das freie Spiel der Passionen und das Primat der ergebnisoffenen „Entfaltung“ der Persönlichkeit. Dass auch ein solcher Entwurf seine Annehmlichkeiten besitzt, soll gar nicht bestritten werden, ebenso wenig der zivilisatorische Wert der Individualautonomie, den ja auch Tocqueville predigt. Wenn aber die Maximierung innergesellschaftlicher Unterschiede zum Selbstzweck erhoben wird, altehrwürdige Konventionen immer leichtfertiger gegen noch so minimale Autonomieausweitungen eingetauscht werden und sich jegliche Basis zur Begründung einer „Leitkultur“ verflüchtigt, so muss dies letztendlich zur Desintegration des Gemeinwesens führen.  Auch die demokratischen Prozesse würden dann im schlimmsten Fall nur noch als periodische Pflichtübung einander entfremdeter Individuen stattfinden, die außer ihrer Zugehörigkeit zum selben staatlichen Hoheitsverband eigentlich nichts mehr miteinander zu tun haben. Ob auf diesem Wege zustanden gekommene Mehrheiten aus zufällig übereinstimmenden Privatinteressen dann noch dieselbe empfundene Legitimität genießen würden, als wenn man sich an der Wahlurne und in den Parlamenten als durch einen gewissen Vorkonsens vertrauensvoll verbundene Landsleute gegenübertritt, darf bezweifelt werden.

Der Konservative will den Menschen erziehen, aber nicht umerziehen – deshalb hat er auch ein durchaus entspanntes Verhältnis zum Laster und den „kleinen Sünden“, solange diesen in geordneten Bahnen gefrönt wird […]

Sollten die bisherigen Überlegungen so manchem Leser von einem gewissen Grundpessimismus erfüllt scheinen, so liegt er damit nicht falsch: Der Konservatismus steht und fällt mit seinen abgeklärten Vorannahmen über die menschliche Natur. Dazu gehört nicht nur ein gewisser Argwohn gegenüber einer idealisierten Vorstellung von der Vernunft (wie er sich zum Beispiel im klassischen Essay „Rationalism in Politics“ von Michael Oakeshott niederschlägt), sondern auch ein illusionsloser Blick auf die seelischen Abgründe des Menschen, seine Reizbarkeit zum Konflikt, seine Willensschwächen und seine unwillkürlichen Vorprägungen durch einen räumlich-zeitlichen Daseinskontext, der auch seine primären sozialen Bindungen umfasst. Deshalb befasst sich der Konservatismus auch gar nicht mit politischen Heilsbotschaften, die sich von diesen existenziellen Voraussetzungen allzu weit entfernen, sei es nun die globale „Weltgesellschaft“ als Ersatz für kommunale, regionale und nationale Zugehörigkeiten oder die Rückkehr in einen verklärten „Naturzustand“, in dem die Wirrungen der Zivilisation zugunsten einer paradiesischen Gesetzeslosigkeit aufgehoben werden. Gleichwohl predigt der Konservative auch nicht die absolute Vergeblichkeit weltlichen Schaffens: Im Gegenteil ringen ihm die zivilisatorischen Errungenschaften, die er in den das menschliche Zusammenleben regulierenden Institutionen verkörpert sieht, höchsten Respekt ab. Er weiß sowohl um das Verfeinerungspotenzial der menschlichen Natur im Rahmen eines wohlgeordneten politischen, sozialen und kulturellen Systems, als auch um dessen Grenzen. Kurz gesagt: Der Konservative will den Menschen erziehen, aber nicht umerziehen – deshalb hat er auch ein durchaus entspanntes Verhältnis zum Laster und den „kleinen Sünden“, solange diesen in geordneten Bahnen gefrönt wird und sie als solche erkannt und nicht etwa für generell unbedenklich erklärt werden. Irdischen Erlösungsphantasien und Vollkommenheitsversprechen erteilt er hingegen eine scharfe Absage: Konservatismus bleibt immer, um mit dem britischen Tory-Vordenker Lord Quinton zu sprechen, „the politics of imperfection“. Er verspricht weder die absolute materielle Gleichheit (Sozialismus) noch den rapiden Fortschritt (Progressivismus) noch die ultimative Freiheit (Liberalismus), sondern jeweils das, was realistischerweise gerade erreichbar erscheint, ohne das Risiko einzugehen, durch Übereifer in die eine oder andere Richtung die Grundfesten der Gesellschaft zu erschüttern.

Dass sich der Konservatismus mit einem solchen Programm, mag man es auch für noch so besonnen befinden, natürlich nicht gerade für übermäßige Popularität unter jüngeren Semestern prädestiniert, ist offensichtlich: Schließlich gibt es keine Phase des Lebens, die mit einer größeren Empfänglichkeit für das Mantra der grenzenlosen Machbarkeit, die Romantik der Rebellion und die Losung der beliebigen Gestaltbarkeit der Zukunft einhergeht. Dennoch soll zum Abschluss ein Versuch gewagt werden, diesen scheinbar unüberwindbaren Gegensatz zwischen den rastlosen Jahren des leidenschaftlichen Aufbegehrens und dieser scheinbar so konformistischen Philosophie der kalmierenden Kontinuität zumindest ein klein wenig zu relativieren – schließlich kann sich auch der kompromissloseste Konservative nicht um die Erkenntnis drücken, dass sich das Gelingen eines auf Langfristigkeit beruhenden politischen Projektes insbesondere daran messen lassen muss, ob es ihm gelingt, sich auch unter den kommenden Generationen eine  Gefolgschaft zu sichern (auch wenn diese zunächst immer nur eine Minderheit darstellen mag).

Was finanzielle Transferleistungen allein nie garantieren können, dafür tragen familiäre, nachbarschaftliche, zivilgesellschaftliche und religiös-karitative Strukturen Sorge – wenn man sie nur im Sinne der Subsidiarität gewähren lässt und ihre Leistungen nicht als Usurpation staatlicher Kernkompetenzen begreift. 

Nachdem der Konservatismus von sich selbst behauptet, weniger das absolut Gute als das relativ Beste im Sortiment zu führen, bietet sich dafür die Methode des Vergleiches an. Den sozialistischen Lockruf der ökonomischen Sorglosigkeit – der für viele Angehörige einer mit prekären, unebenen Karriereverläufen und unsicheren wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven konfrontierten Generation verständlicherweise attraktiv klingt – kann der Konservatismus zwar rein rhetorisch nicht überbieten (obwohl er auf den tatsächlich erwirtschafteten breiten Wohlstand der bürgerlichen Gesellschaft verweisen kann), ihm aber sehr wohl eine Idee der sozialen Sicherheit entgegenstellen, die nicht nur auf dem unpersönlichen, bürokratischen Umverteilungsstaat beruht, sondern auch im zwischenmenschlichen Sinn einen sicheren, lebenslang anlaufbaren Hafen bietet: Was finanzielle Transferleistungen allein nie garantieren können, dafür tragen familiäre, nachbarschaftliche, zivilgesellschaftliche und religiös-karitative Strukturen Sorge – wenn man sie nur im Sinne der Subsidiarität gewähren lässt und ihre Leistungen nicht als Usurpation staatlicher Kernkompetenzen begreift. Auf der anderen Seite muss der Konservative auch die richtige Sprache finden, um auf den auf junges Publikum erfrischend wirkenden Freiheitspathos der Liberalen antworten zu können – womit er sich bisweilen schwertut, weil er sich diesem Jargon über den Umweg des Wirtschaftsliberalismus teilweise sehr stark angenähert hat. Natürlich kann die Antwort nicht in einem Rückfall in paternalistische Reflexe bestehen – die moralistische Verbotsfreudigkeit der neuen Linken zeigt, wie schnell sich die gesellschaftspolitischen Winde und damit der Zugang zu rechtlichen Zwangsmitteln drehen können. Was der Konservatismus dem Liberalismus voraus hat, ist vielmehr seine Kompassfunktion: Wo der Liberale unablässig dereguliert und ständig neue Optionen eröffnet, nur um sich danach in relativistische Neutralität zu hüllen (Patrick Deneen spricht von „indifference to human ends“), bietet der Konservative durch angewandte Lebensweisheit Orientierung: Die dem Einzelnen zugestandene Wahlfreiheit verbindet er mit wohlmeinenden Empfehlungen und sanftem Zu- oder Abraten. Wo der Liberale sich damit zufriedengibt, das Individuum in eine von Hedonismus und Reizüberflutung geprägte Welt zu entlassen, zeigt der Konservative abseits der Trampelpfade der modernen Massengesellschaft in Vergessenheit geratene Schleichwege zum „guten Leben“ auf. Vielleicht ist genau in diesem Aspekt der gesuchte Berührungspunkt zwischen Konservatismus und jugendlicher Sinnsuche zu finden – und vielleicht stellt sich dann die Wiederentdeckung von traditionellen Werten unverhofft als höchste Stufe des Nonkonformismus heraus.

Johann Kaltenleithner
Der 26-jährige Johann Kaltenleithner studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg und ist aktuell an einem Forschungsprojekt im Bereich Europapolitik beteiligt. Seine sonstigen politischen Interessen liegen vor allem im Bereich der Theorie und Ideengeschichte.

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