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Das internationale Parkett der Diplomatie: Wien als Brückenbauer

1815 war Wien mehr als sechs Monate lang Wohnort mehrerer Staatsoberhäupter, Könige, Diplomaten und Delegationen. Während des Wiener Kongresses stellten die damaligen Großmächte die europäische Ordnung wieder her. Die Hauptstadt der Habsburger Monarchie war einst als das Spielfeld der größten Politiker und Diplomaten Europas bekannt. Der damalige österreichische Außenminister, später Staatskanzler und Henry Kissingers ideologisches Leitbild, Klemens von Metternich – ein Realist und Machiavellist – kann als einer der Urväter der modernen europäischen Diplomatie angesehen werden. Dennoch ist Wien mehr als der Kongress, „der einst tanzte“. Während der Glanz der Habsburger Monarchie verblasst ist, bleibt die Rolle Wiens bis heute unbestritten.

Die stabilisierende Rolle und das konservative Gewissen Europas: Die Habsburger

Die Habsburger Monarchie spielte bis zu ihrem Zerfall eine stabilisierende Rolle in einem ausbalancierten Europa. Geprägt durch die zentrale Lage und die wirtschaftliche und geographische Bedeutung verband das Habsburgerreich den Westen mit dem Osten, den Süden mit Mitteleuropa. Das vergleichsweise militärisch passive Reich ist nicht nur Dank der Heiratspolitik zur führenden Macht aufgestiegen – sondern, vor allem Dank der Diplomatie und der gewichtigen Rolle im Deutschen Bund. Jahrhundertelang beeinflussten die Habsburger die Politik im gesamten Zentraleuropa – bis einschließlich 1866, als Österreich im sogenannten Deutschen Bruderkrieg die Vormachtstellung im Deutschen Bund an Preußen abtreten musste. Zum Zentrum der europäischen Politik entwickelte sich Österreich vor allem im Napoleonischen Zeitalter, als beim Wiener Kongress die europäische Neuordnung neu diktiert wurde. Nicht nur, weil der Kongress in Wien stattfand, sondern nicht zuletzt aufgrund der brillanten Rolle der österreichischen Diplomatie, die bis heute das Sinnbild moderner Diplomatie ist. 1814/1815 wurde Österreich zum Zentrum der politischen und kulturellen Welt. Neben Intrigen, einem Spionagenetzwerk und des reichen Kulturprogramms, wurden in Wien Bündnisse geschmiedet, die Grenzen neugezogen und die Grundlage für die jahrzehntelange mehr oder weniger erfolgreiche Stabilität gelegt.

Wie effektiv – für damalige Verhältnisse – das 1815 geschlossene Bündnis, die Heilige Allianz, war, lässt sich daran erkennen, dass unter anderem russische Regimenter auf Nachfrage Österreichs 1848 intervenierten.

Obwohl militärisch Europa allen voran von Frankreich, Großbritannien, Russland und den nunmehr aufstrebenden Preußen bestimmt wurde, konzentrierte Österreich eine wirtschaftliche und politische Macht. Die österreichische Präsenz war maßgeblich für ein ausbalanciertes Europa. In Zentraleuropa fungierten die Habsburger aufgrund ihrer dominierenden Präsenz im Deutschen Bund bis 1866 als Gegengewicht zu Preußen. Wie effektiv – für damalige Verhältnisse – das 1815 geschlossene Bündnis, die Heilige Allianz, war, lässt sich daran erkennen, dass unter anderem russische Regimenter auf Nachfrage Österreichs 1848 intervenierten. Auf der anderen Seite muss erwähnt werden, dass es vor allem ein Zweckbündnis war. Ein Zweckbündnis der Konservativen gegen nationalistische und liberale Tendenzen, die in ganz Europa brodelten. Die Habsburger Monarchie, vor allem Metternich, waren das konservative Gewissen Europas. Das konservative Gewissen, das sich ursprünglich als Gegenreaktion zur Französischen Revolution bildete, konnte keine Lösungsansätze in einem vom Nationalismus geprägten 19. Jahrhundert liefern. Vor allem im Vielvölkerstaat der Habsburger beruhigten sich die Nationalbestrebungen bis zum Zerfall kaum – man könnte sogar sagen, dass sie für den Zerfall maßgeblich und mitverantwortlich waren.

Österreich als Verhandlungsplattform und Brückenbauer

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Österreich trotz oder vor allem aufgrund der zentralen Lage und der diplomatischen Tradition zum Sinnbild für die Brückenbaupolitik – nicht nur zwischen Ost und West. Wien kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg zurück auf das internationalen Parkett, wo es bis heute eine prägende Rolle spielt. Eine Rolle spielt nicht zuletzt die Habsburger Vergangenheit. Die traditionell guten Verhältnisse, teilweise dynastischen Verflechtungen mit den westlichen Mächten, aber auch mit Russland, sind nicht die einzigen Faktoren. Österreich hat vor allem eines, was der Schweiz und anderen „neutralen Staaten“ fehlt: Kulturelle Einflüsse aus Ost- und Südosteuropa, die nicht zuletzt auf die Habsburgermonarchie zurückzuführen sind. Das jahrhundertelange Zusammenleben mit den West- und Südslawen erlaubt es Österreich als eines der wenigen „westlichen“ Länder eine Brückenbaufunktion bis heute glaubwürdig zu erfüllen. Anders formuliert: Österreich kann sowohl mit West- als auch Osteuropa.

Österreich hat vor allem eines, was der Schweiz und anderen „neutralen Staaten“ fehlt: Kulturelle Einflüsse aus Ost- und Südosteuropa, die nicht zuletzt auf die Habsburgermonarchie zurückzuführen sind.

Das stellte Österreich in der Geschichte mehrmals unter Beweis:

Während des Wiener Kongresses, als Österreich das sogenannte Wiener Konzert orchestrierte. Aber auch im Kalten Krieg, als Österreich die Brückenbauerfunktion wahrnehmend zum Sitz mehrerer internationaler Organisationen wurde. Österreich wurde nicht zur zum Schauplatz einer Propagandaschlacht zwischen den beiden Welten, zum Spionagehotspot der beiden Giganten. Nein, es wurde auch zum Symbolbild einer Verhandlungsplattform – symbolhaft dafür ist etwa das Gipfeltreffen zwischen Kennedy und Chruschtschow 1961. Eine wichtige, wenn auch passive Bedeutung spielte das Land auch während des Prager Frühlings und des Ungarischen Aufstandes, als es – feinfühlig aber konsequent, ohne sich politisch maßgeblich einzumischen – einerseits zur Heimstätte vieler Flüchtlinge wurde, aber auch eine aktive Berichterstattungspolitik über die Ereignisse führte. Die österreichische Vermittlungspolitik ist beinahe beispiellos in der Geschichte, lediglich die Schweiz und Finnland wären ansatzweise damit vergleichbar. Denn die außenpolitische Rolle beschränkte sich nicht nur auf den Europäischen Kontinent, sondern erlaubte es Österreich auch aktiv im Nahostkonflikt teilzunehmen.

Die neue Selbstsicherheit und eine Chance für Europa

Sogar nach dem Beitritt zur Europäischen Union, einer klaren Westorientierung des Landes, genießt Österreich bis heute gute Beziehungen zu Washington, Moskau, Jerusalem und Brüssel. Die Vermittlungsfunktion, die einst für die österreichische Außenpolitik prägend war, ist nie von der Bildfläche verschwunden. Aber sie erlebt heute eine Art Revival. In einem kulturell und politisch geteilten Europa gewinnt Österreich wieder an Bedeutung. Die österreichische Außenpolitik gewann in den letzten zehn Jahren mehr an Selbstsicherheit. Der Ballhausplatz schielt nicht mehr nach Berlin – Österreich entwickelt eigene Ansätze, stellt ein politisches Gegengewicht und nutzt die traditionell guten Beziehungen zu den Nachbarn.

In einem kulturell und politisch geteilten Europa gewinnt Österreich wieder an Bedeutung.

Im heutigen Europa schließen Blöcke in einzelnen Fragen Zweckgemeinschaften – Österreich gilt dabei nicht nur als politischer Mitläufer, sondern tritt vermehrt als Agenda-Setter auf, etwa in der Migrations- oder in der Fiskalpolitik. Die Sonderstellung macht sich auch durch die hohe außenpolitische Flexibilität und das hohe Vertrauen bemerkbar. 200 Jahre nach dem Wiener Kongress und 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt die Konstante der österreichischen Außenpolitik dieselbe: Österreich kann sowohl mit den skandinavischen Nordländern als auch mit den Visegrad-Staaten. Dennoch pflegt Österreich mittlerweile eine aktivere außenpolitische Rolle, nicht zuletzt auch mit den Balkanstaaten. Bis heute spielt Österreich eine gewichtige Rolle im Balkan. Trotz der komplizierten Beziehung haben viele Balkanstaaten trotz unterschiedlicher Positionen – ob direkt oder indirekt – eine Art Vertrauensverhältnis, manche eine Art Hassliebe gegenüber Österreich. Das spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass die ex-jugoslawischen Communities – vorrangig Kroaten, Bosnier und Serben, zumeist gut integrierte Bevölkerungsgruppen – eine wichtige Wählergruppe sind. Das sieht man unter anderem darin, wie österreichische Parteien durch außenpolitische Positionen und Identitätsbindung die Gunst der BKS-Wähler gewinnen.

Der bis heute anhaltende Einfluss im, und das Verständnis für Ost- und Südosteuropa kann für Europa von unschätzbarem Wert sein. Ohne in grenzenlosen Optimismus zu verfallen, kann die österreichische Sonderstellung durch die diplomatische Tradition als eine Chance für Europa wahrgenommen werden. Eine Chance, die Blockbildungen nicht weiter zu versteifen, sondern eine gemeinsame Basis zu schaffen. Eine Chance, die Beziehungen zum Balkan zu verstärken und Südosteuropa nicht gänzlich dem russischen, chinesischen, teilweise türkischen und saudi-arabischen Einfluss zu überlassen. Heute gilt Wien als einer der Sitze der Vereinten Nationen, der OSZE, der Atomorganisation IAEA oder etwa der OPEC. Für Henry Kissinger, einen der prägendsten Diplomaten des 20. Jahrhunderts, galt nicht nur Klemens von Metternich als Genie, sondern Österreich als die (einstige) Verbildlichung des politischen Europas.

Konstantin Ghazaryan
Neben seiner Mitwirkung an der Interviewführung und -ausarbeitung, verfasst der Political Science MA-Absolvent vor allem Analysen und Kommentare für die Bereiche der internationalen und europäischen Politik. Die Bereiche Sicherheitspolitik, Allianzen und Diplomatie gehören zu seinen Schwerpunkten.

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