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Am 24. Februar starteten russische Militäreinheiten eine großflächige Offensive auf ukrainische Ziele und drangen in ukrainisches Territorium vor. Spätestens seit diesem Kriegsakt stehen wir einem neuen Kalten Krieg entgegen. Einem Kalten Krieg, dass die Fronten zwischen dem Westen und Russland weitgehend verhärten wird. Die westliche Welt, insbesondere die EU befinden sich in einer politischen Stockstarre; die Medien sprechen von einer Zeitwende.

Doch die Zeitwende, von der wir nun alle reden, ist nicht erst seit dem 24. Februar eingetreten. Die Zeitwende zieht sich die letzten 14 Jahre schleichend dahin, erstmals mit dem Georgienkrieg 2008. Seit 2008 konnte die Russische Föderation die eigene Machtbasis im post-sowjetischen Raum ausbauen. Während des Georgienkriegs 2008, des armenisch-aserbaidschanischen Krieges 2020, der Unruhen in Belarus und Kasachstan 2021 haben wir uns mit uns selbst beschäftigt. Die Konflikte vor den Toren Europas wurden von der Europäischen Union gemieden, da sie sich in der russischen Einflusszone befinden würde. Damit drängte man diese Länder erst recht in die russische Einflusszone.

 

Der EU fehlt es an Realpolitik und (außen)politischer Einheit

Die europäischen Staaten haben in einer politischen Parallelwelt dahinschwelgend sich in Sicherheit gefühlt und konnten sich nicht vorstellen, dass es in Europa wieder einen Krieg geben wird. Politischer Realismus Fehlanzeige. Stattdessen übernahmen politische Idealisten die de facto kaum existente Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Denn eines der wenigen Strategien der europäischen Sicherheitsarchitektur hat nichts mit Europa selbst zu tun: Der Verlass auf die Vereinigten Staaten. Das wird vor allem dann ersichtlich, wenn man einen Blick nach Osteuropa wirft. Osteuropäische Länder wie etwa Lettland, Litauen, Estland oder Polen betrachten nicht die EU als militärischen und politischen Verbündeten, sondern die Vereinigten Staaten.

Doch der EU fehlt es an politischer Einheit und an außenpolitischer Realpolitik…

Es ist ein politischer Irrtum, dass die Europäische Union keine militärische Komponente besitzt. Die EU besitzt sowohl über eine Sicherheitsarchitektur, mit Auslandseinsätzen, die sich in der Quantität mit jenen der NATO vergleichen lassen, als auch einen außenpolitischen Apparat. Die EU verfügt auch über andere Komponenten, die in der Geopolitik wichtig sind – einer Russland mehrfach überlegenen Wirtschaft und dem demographischen Vorteil. Doch der EU fehlt es an politischer Einheit und an außenpolitischer Realpolitik, die in den Vereinigten Staaten, wie auch in Russland und in China aktiv betrieben wird. Man könnte auch sagen: Die europäische Außenpolitik ist zahnlos, eine gut gemeinte Soft Power Politik, die nicht der politischen Realität entspricht.

 

Wir haben die post-sowjetischen Länder in die Hände Russlands getrieben

Für den heutigen Konfrontationskurs ist die EU-Außenpolitik weitgehend mitverantwortlich. Der Grund besteht dabei nicht, in der von Russland immer wieder argumentierten Ost-Erweiterung der EU und NATO, die für die baltischen Staaten und Polen alternativlos war, sondern in der politischen Passivität im post-sowjetischen Raum. Mit halbherzigen Projekten hat man versucht ein Tor in den post-sowjetischen Raum aufzumachen. Man hat post-sowjetische Länder, vor allem aber die Bevölkerung dieser Länder von der EU, den europäischen Werten und Standards überzeugt. Letzten Endes hat man aber ebendiese Länder auf halber Strecke im Stich gelassen und ja, diese teilweise sogar in die Hände Russlands getrieben. Das Beispiel des Bergkarabach-Kriegs verdeutlicht die europäische Passivität besonders gut: Man hat die Region sich selbst und Russland sowie Türkei überlassen. Damit hat man die Region erst recht und noch stärker in eine russische Abhängigkeit gestellt.

Unabhängig davon, ob sich Wladimir Putin in der Kosten-Nutzen-Frage verkalkuliert hat oder nicht, fest steht: Die europäische Außenpolitik hat ihn vor einem Krieg nicht zurückgeschreckt.

Man hat in Brüssel nicht realisiert, dass Symbolpolitik und „Verurteilungen“ sowie Bothsideism nicht ausreichen, um tatsächlich Stellung zu beziehen und den russischen Einfluss zurückzudrängen. Die europäische Außenpolitik hat an Autorität eingebüßt – das zeigt nicht zuletzt der Umstand der russischen Invasion in der Ukraine. Unabhängig davon, ob sich Wladimir Putin in der Kosten-Nutzen-Frage verkalkuliert hat oder nicht, fest steht: Die europäische Außenpolitik hat ihn vor einem Krieg nicht zurückgeschreckt.

 

Ukraine-Konflikt kein Stellvertreterkrieg: Eine direkte Konfrontation zwischen Russland und dem Westen

Der Überraschungszustand vor einem großflächigen Krieg in der Ukraine, in dem sich die EU befindet,  mag zwar nachvollziehbar sein, militärische Eskalationen per se sind hingegen kein Novum in Europa und erst recht auf der Welt. Dennoch ist der Ukraine-Konflikt aus mehrerer Hinsicht besonders, vor allem besonders gefährlich: Während in all den Stellvertreterkriegen in Syrien oder Libyen zumindest eine, wenn auch minimale, Form der Kooperation zwischen dem Westen und Russland stattfand, um sich militärisch und politisch nicht in die Quere zu kommen, so ist genau dieser Umstand in Ukraine ganz anders. Denn der Ukraine-Konflikt findet nicht mehr vor den Toren Europas statt, sondern mitten in Europa. Der Ukraine-Krieg wurde ursächlich nicht von innen begonnen – wie etwa der Jugoslawienkrieg – sondern von außen. Zu guter Letzt gibt es in der Ukraine keine Kooperation, kein  gegenseitiges Einvernehmen. Es ist eine direkte Konfrontation zwischen dem Westen und Russland mitten in Europa.

Dabei wird von Kritikern der aktuellen Sanktionen kritisiert, dass man sich nicht aus dem Konflikt heraushalte und dadurch den Konflikt noch stärker befeuere. Diese Logik ist der Grundstein für einen möglichen Domino-Effekt: Die EU hat sich bereits aus zu vielen Konflikten in der unmittelbaren Nachbarschaft rausgehalten. Nicht trotz dessen, sondern auf Grund genau dieser Zurückhaltung und Nicht-Abschreckung ist es nun auch zu einer großen Militäroffensive in der Ukraine gekommen. Ein Weiterwinken der russischen Aggression würde in späterer Folge weitere Eskalationen zur Folge haben.

Ein weiteres hervorstechendes Argument des Kremls, das auch bei uns Anhänger findet, ist der Umstand der NATO- und EU-Osterweiterung, das zu dieser Krise erst geführt hat. Die Argumentationslinie Moskaus ist hierbei aus zwei Gründen problematisch: Zum einen können souveräne Staaten selbst entscheiden, welcher Organisation sie beitreten. Zum einen verlangt zwar Russland Sicherheitsgarantien vom Westen, hat aber selbst in den letzten dreißig Jahren keine Garantien gegenüber Lettland, Litauen, Estland oder etwa Polen abgegeben. Eine Sicherheitsgarantie gab es Anfang der 90er Jahre gegenüber der Ukraine: Die Ukraine sollte ihr Atomwaffenarsenal an Russland abgeben und im Gegenzug Garantien bezüglich der territorialen Souveränität erhalten.

 

Neuer Kalter Krieg und Re-Sowjetisierung als Folge des Ukraine-Kriegs

Der neu ausgebrochene Konflikt, der unweigerlich einen länger andauernden Krieg nach sich ziehen wird, wird auch die post-sowjetischen Länder, die bis jetzt zwischen dem politischen Westen und Russland positioniert waren, in die russische Einflusssphäre zwingen. Eine Restaurierung einer Sowjetunion bzw. eines ähnlichen Gebildes ist hoher Wahrscheinlichkeit das Ziel Moskaus. Es verliert nicht nur die Demokratie – nein, die Leidtragenden sind die Völker, die nach 30 Jahren Unabhängigkeit wieder in eine sowjetische Renaissance hineinfallen.

Eine Restaurierung einer Sowjetunion bzw. eines ähnlichen Gebildes ist hoher Wahrscheinlichkeit das Ziel Moskaus.

Eine aktivere und ernstgemeinte europäische Realpolitik, eine eigenständige Sicherheitspolitik und politische Einheit gegenüber Putin oder Erdogan würde diese Entwicklungen zumindest bremsen. So sehr die mediale Berichterstattung und internationale Hilfe gegenüber der Ukraine heute richtig und wichtig ist, desto unverständlicher ist die fehlende ernstgemeinte Solidarität gegenüber den Konflikten in Georgien, Berg-Karabach, den Unruhen in Belarus und Kasachstan. Wir dürfen es uns nicht mehr leisten, politisch gleichgültig zu sein.

Autor: Konstantin Ghazaryan, MA

 

Konstantin Ghazaryan
Neben seiner Mitwirkung an der Interviewführung und -ausarbeitung, verfasst der Political Science MA-Absolvent vor allem Analysen und Kommentare für die Bereiche der internationalen und europäischen Politik. Die Bereiche Sicherheitspolitik, Allianzen und Diplomatie gehören zu seinen Schwerpunkten.

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