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Sowohl das am kaspischen Meer gelegene mehrheitlich schiitische Aserbaidschan, als auch der christlich dominierte Binnenstaat Armenien kämpfen um die Frage der de facto Republik, die in etwa vier Mal so groß ist wie das Saarland. Den Disput auf einen Konflikt unter „gleichen Kräften“ mit ähnlichen historischen und rechtlichen Ansprüchen darzustellen, ist einer – ob gewollten oder ungewollten – Oberflächlichkeit geschuldet.

Die Wurzeln des Konflikts: Eine Frage der historischen und ethnischen Realitäten

Um den Konflikt besser zu verstehen, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. Historisch betrachtet finden sich die ersten Erwähnungen der Armenier im Kaukasus im 9. Jahrhundert v.Chr. Die Vorfahren aserbaidschanischer Stämme siedelten sich erst im Laufe der Eroberungszüge der Seldschuken sowie der Turkvölker und durch den iranischen Einfluss etwa im 11. Jahrhundert n.Chr. in dieser Region an. Das Sammelsurium an Volksgruppen, die die moderne aserbaidschanische Ethnie ausmachen, bildete sich in der späten Neuzeit und während der Unabhängigkeitsbewegungen im Kaukasus in den 1920ern zu einer aserbaidschanischen, turksprachigen Nation. Der Großteil der Gebiete des modernen Aserbaidschans wurde bis zur Herrschaft von Seldschuken und Safaviden weitgehend einerseits durch die kaukasischen Albaner (es gibt trotz der Namensähnlichkeit keinen Bezug zu den Albanern im Balkan), die ähnlich wie die Armenier christlich geprägt waren, sowie Parther und Armenier beheimatet. Die Region um Bergkarabach selbst wird seit dem 5. Jahrhundert durchgehend mehrheitlich durch ethnische Armenier bewohnt.

Trotz wechselnder Regionalmächte und Machthaber gibt es eine Konstante in der Region Bergkarabach: nämlich die armenische Bevölkerungsmehrheit. Wichtig für den neu entfachten Konflikt sind aber einerseits die 1920er Jahre und andererseits der Zerfall der Sowjetunion mit dem anschließenden Unabhängigkeitsreferendum. Im Zuge der Unabhängigkeitserklärungen nach dem Ersten Weltkrieg und der Zeit der kurzlebigen Republiken stellten sowohl Armenien als auch Aserbaidschan einen Anspruch auf die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach.

Wichtig ist der Umstand, dass die Eingliederung der Region als autonome Teilrepublik weiterhin nichts an den Bevölkerungsverhältnissen verändert hat. So stellten nach der Eingliederung 1926 89% und 1939 88% der Bevölkerung ethnische Armenier.

Um den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen und die Beziehungen zur Türkei zu entspannen, wurde die Region von der damaligen sowjetischen Führungsriege 1921/1922 als autonome Teilrepublik an Aserbaidschan eingegliedert. Wichtig ist der Umstand, dass die Eingliederung der Region als autonome Teilrepublik weiterhin nichts an den Bevölkerungsverhältnissen verändert hat. So stellten nach der Eingliederung 1926 89% und 1939 88% der Bevölkerung ethnische Armenier. Auch Assimilierungsanstrengungen seitens Baku erzielten nicht die gewünschten Ergebnisse. Noch in den 70er und 80er Jahre stellten etwa 80% der Bevölkerung Armenier. Die historischen Verflechtungen und die Kontinuität der Bevölkerungsverhältnisse deuten daraufhin, dass die autochthone Bevölkerungsgruppe der Region mehrheitlich nicht Aserbaidschaner, sondern Armenier waren. Die politischen Maßnahmen der sowjetischen Führung getreu dem Motto „Teile und herrsche“, und die machtpolitisch motivierte Eingliederung können als Grundstein für den heutigen Konflikt angesehen werden.

Die erneute Entfachung eines Generationenkonflikts

Die mehr oder minder stabile Situation in den späten Sowjetjahren entfachte in den 80er Jahren erneut zu einem Konflikt, als der innere Zerfallsprozess der Sowjetunion eintrat. Die neuerlichen Konflikte begannen dabei bereits Ende der 80er Jahre, erlebten aber ihren Höhepunkt zwischen 1991 und 1994. Gemäß der sowjetischen Verfassung hatten neben vollwertigen Republiken auch autonome Teilrepubliken wie etwa Bergkarabach das Recht, ihre Unabhängigkeit zu erklären. Die in den Sowjetjahren von Baku vernachlässigte Region Bergkarabach führte 1991 – unter anderem aufgrund anwachsender Rivalitäten – ein Unabhängigkeitsreferendum durch. Das Referendum wurde dabei von der aserbaidschanischen Bevölkerung boykottiert. Die Bevölkerung stimmte mit einer überwältigenden Mehrheit für die Unabhängigkeit (99%). Sogar die Annahme, dass die Nicht-Wähler (boykottierende Bevölkerungsteile) als Nein-Stimmen zu bewerten seien, würde zu einem Verhältnis von 82% für und 18% gegen die Unabhängigkeit führen. Die eindeutige Absicht der mehrheitlich armenischen Bevölkerung in Bergkarabach wurde seitens der aserbaidschanischen Sowjetregierung abgelehnt, woraufhin es zum mehrjährigen Krieg kam. Im Vorfeld des Krieges kam es einerseits zu Vertreibungen von Armeniern aus dem restlichen Aserbaidschan und den Aserbaidschanern aus Armenien.

Demonstration der Karabach-Bewegung vor der Oper in Yerevan 1988 / FHen

Die Anfänge des Kriegs wurden dabei unter anderem durch den sogenannten Schwarzen Januar – den aserbaidschanischen Pogromen gegen die Armenier in Baku – eingeleitet. Im Zuge des Krieges kam es zu weiteren gegenseitigen Übergriffen. Die aserbaidschanische Seite wurde einerseits durch tschetschenische Rebellen, andererseits durch afghanische Mudschaheddin und den Grauen Wölfen unterstützt. Auf armenischer Seite kämpften vereinzelte Gruppen aus Griechenland. 1994 konnte zwischen den Kriegsparteien ein Waffenstillstand festgelegt werden, wodurch Bergkarabach de facto unabhängig wurde und neben den Kerngebieten einen Sicherheitsgürtel und den Korridor nach Armenien kontrollierte.

In den nachfolgenden Jahren, verstärkt durch die Machtübernahme Ilham Alijews 2003, wurden die Kriegsrhetorik einerseits und faktische Auseinandersetzungen andererseits zu einer Regelmäßigkeit. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung Aserbaidschans auf Basis von Erdölquellen verschob sich allen voran das militärische Machtverhältnis in den Folgejahren.

Herausforderungen im Zuge veränderten Geopolitik: Eine Schieflage des Gleichgewichts

Die Konsequenzen des brüchigen Waffenstillstands mündeten 2016 und 2020 in kritischen Höhepunkten. 2016 kam es im April zu mehrtägigen schweren Auseinandersetzungen, im Zuge deren beide Seiten hohe Opferzahlen zu beklagen hatten. Dabei gilt zu unterscheiden, dass es in den letzten Jahren wesentliche geopolitische Änderungen im Kaukasus gab. Einerseits ist hierbei die samtene Revolution 2018 in Armenien zu erwähnen, im Zuge derer es zu einer leichten Abkühlung der Beziehungen zwischen Moskau und Jerewan kam. Andererseits manövrierte sich die türkische Außenpolitik – getrieben durch Interessen in der Energie- und Machtpolitik sowie innenpolitischer Instabilität – in eine Reihe von Konflikten im Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und Kaukasus.

Karte der Region von Evan Centanni auf Basis von Bourrichon und Lesqual / CC BY-SA

Hierbei gilt zu erwähnen, dass von der Türkei bis nach Zentralasien – mit Ausnahme Armeniens –  durch Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan sich durchgehend turksprachige Länder befinden, die einen ähnlichen sprachlichen, kulturellen und geografischen Ursprung teilen. Die Türkei und Aserbaidschan sehen sich per Eigendefinition dabei als Brüdervölker getreu dem Motto „Eine Nation in zwei Staaten“, was beide Machthaber immer wieder unterstreichen. Anders formuliert könnte man die Türkei kontextbezogen als de facto Schutzmacht Aserbaidschans bezeichnen. Die Auseinandersetzung im Juli 2020 erfolgte anders als die vorherigen Gefechte nicht im umstrittenen Teil – nämlich Bergkarabach – sondern an den international anerkannten Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Obwohl eine Auseinandersetzung an den anerkannten Grenzen den Verteidigungsfall beim OVKS, dessen Mitglied Armenien ist, bedeuten würde, kam es zu keiner Intervention des Bündnisses. Im Zuge der Juli-Gefechte wurden zahlreiche zivile Einrichtungen getroffen. Zum Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen kam es, als das aserbaidschanische Verteidigungsministerium die Möglichkeit in den Raum stellte, das armenische Atomkraftwerk treffen zu können. Die kurze instabile Friedenszeit zwischen Juli und September schaukelte sich erneut hoch, als aserbaidschanische Geschütze auf die armenische Seite trafen. In gewohnter Manier wies Baku die Vorwürfe zurück und konterte, dass Armenien den Angriff initiiert habe.

Erdogan und Aliyev, zwei enge Partner / The Presidential Press and Information Office’s of Azerbaijan

Motive einer militärischen Eskalation: Existenzkämpfe einer Nation

Die Frage des Erstangriffes ist in erster Linie eine Frage der Motive. Armenien und Bergkarabach wollen den Status quo beibehalten und streben eine Anerkennung der de facto Republik an. Aserbaidschan strebt eine Änderung des Status quo an und will die territoriale Integrität – wenn nötig mit militärischen Instrumenten –  wiederherstellen. Zusätzlich ist Armenien was die Bevölkerungszahl, das Bruttoinlandprodukt und die Militärausgaben betrifft Aserbaidschan im Einzelnen und Türkei sowie Aserbaidschan in der Gesamtheit um das Vielfache unterlegen. Die ungünstige Stellung einer faktischen Blockade aus beiden Seiten sowie die militärische Intervention der Türkei sind weitere Indizien, wieso ein Erstangriff Armeniens kaum argumentative Grundlage bietet. Zusätzlich stößt die armenische Forderung nach verstärkter Präsenz von internationalen Beobachtern auf wenig Verständnis auf der aserbaidschanischen Seite. Neben der türkischen Intervention stellt die militärische sowie finanzielle Überlegenheit der Türkei und der Einsatz syrischer Islamisten Jerewan vor neue Herausforderungen. Das Machtgleichgewicht ist aufgrund des Fehlens eines aktiven Bündnispartners auf armenischer Seite ebenso de facto nicht gegeben.

Sänger oder etwa Sportler armenischer Herkunft können an Wettbewerben in Aserbaidschan aufgrund ihrer Ethnie nicht teilnehmen. Der armenische Stadtteil Bakus Armenikend ist ähnlich wie zahlreiche historische Bauten nach und nach einem kulturellen Genozid zum Opfer gefallen.

Zu guter Letzt lassen sich in punkto einer möglichen Übernahme der de facto Republik durch Aserbaidschan berechtigte Befürchtungen hochkommen. Die idealisierende Darstellung, Armenier können im Sinne einer Autonomie in Aserbaidschan weiterhin existieren, steht im starken Gegensatz zur alltäglichen und politischen Realität. Sänger oder etwa Sportler armenischer Herkunft können an Wettbewerben in Aserbaidschan aufgrund ihrer Ethnie nicht teilnehmen. Der armenische Stadtteil Bakus Armenikend ist ähnlich wie zahlreiche historische Bauten nach und nach einem kulturellen Genozid zum Opfer gefallen. Die alarmierenden Worte keines minderen als des ehemaligen Bürgermeisters von Baku Hacıbala Abutalıbov (2001-2018) bei einem Treffen mit einer bayrischen Delegation 2005 sprechen eine eigene Sprache: „Unser Ziel ist die vollständige Auslöschung der Armenier. Sie, Nazis, haben bereits die Juden in den 1930er und 40er Jahren eliminiert, richtig? Sie sollten in der Lage sein, uns zu verstehen.“ Nach diesem beispielhaften Zitat einer der führenden aserbaidschanischen Politiker erübrigt sich die Existenzfrage der Armenier bei einer möglichen Übernahme durch Aserbaidschan. Eine Existenzfrage, bei der es nicht um 20% eines Territoriums geht, sondern um eine Überlebensfrage einer ohnehin schon weltweit zerstreuten Nation. Einer Nation, die nicht zum ersten Mal um das Überleben kämpft.

Titelbild: Maxim Atayants

Konstantin Ghazaryan
Neben seiner Mitwirkung an der Interviewführung und -ausarbeitung, verfasst der Political Science MA-Absolvent vor allem Analysen und Kommentare für die Bereiche der internationalen und europäischen Politik. Die Bereiche Sicherheitspolitik, Allianzen und Diplomatie gehören zu seinen Schwerpunkten.

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