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Frau Gamon, Sie sind seit Juli 2019 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Warum haben Sie sich entschieden, für das EU-Parlament zu kandidieren und wie bewerten Sie die Arbeit des EU-Parlaments?

Die Arbeit im EU-Parlament ist ganz anders als im Nationalrat. Das EU-Parlament ist im Vergleich eher als Arbeitsparlament ausgerichtet und die einzelnen Abgeordneten können mehr mitbestimmen. Es sind auch mehr Ressourcen als im Nationalrat verfügbar. Mich hat die Arbeitsweise dort gereizt, man kommt mit vielen Leuten aus unterschiedlichen Ländern zusammen. Aber auch inhaltlich, zurzeit entscheidet sich viel Wichtiges auf europäischer Ebene – Stichwort Klimawandel und Digitalisierung. 

Ist es denn möglich, als Mitglied einer kleineren Partei auf EU-Ebene etwas zu bewegen? Vielleicht auch gemeinsam mit der Renew-Europe-Fraktion?

In der Frage steckt schon die Antwort. Ich bin vielleicht in einer kleinen Partei, aber ich bin in der drittgrößten Fraktion des EU-Parlaments. Dadurch haben wir einen enorm großen Hebel als Liberale im Europäischen Parlament, um maßgeblich politische Entscheidungen mitbestimmen zu können. Ich war es gar nicht gewohnt, in einer großen Fraktion zu sein, aber jetzt weiß ich, wie das ist. 

Außerdem sind Sie in zwei Ausschüssen. Zum einen sind Sie vollwertiges Mitglied im Ausschuss ‘Industrie, Forschung und Energie’ (ITRE) und zum anderen sind Sie Ersatzmitglied im Ausschuss ‘Binnenmarkt und Verbraucherschutz’ (IMCO). Wie kann man sich die Arbeit in diesen Ausschüssen vorstellen und was sind Ihre persönlichen Themen, mit denen Sie sich auseinandersetzen?

Also die Arbeit in den Ausschüssen erfolgt sehr themenspezifisch. Das Parlament arbeitet grundsätzlich so, dass Gesetzesinitiativen oder auch nichtlegislative Berichte von der Kommission ins Parlament kommen und dort bearbeitet werden. Anhand dessen organisiert sich die Arbeit im Ausschuss. Man ist für die Berichte zuständig, für die man von der Fraktion das Vertrauen kriegt. Die ersten Themen, mit denen ich mich im ITRE-Ausschuss beschäftigen durfte, war einerseits Cyber-Security als Schattenberichterstatterin und als Berichterstatterin zum Thema Energiespeicher (Anm. Claudia Gamon ist seit kurzem auch Ersatzmitglied im Ausschuss für Umwelt und Gesundheit). Das ist jetzt bunt gemischt, aber der ITRE-Ausschuss deckt sowohl die Forschung, als auch die Energiepolitik und die Industriepolitik ab. Dadurch hat man ein buntes Feld, mit dem man sich beschäftigen kann. 

Innerhalb der liberalen Fraktion und zwischen einzelnen Parteien kommt es bei Abstimmungen hin und wieder zu Meinungsverschiedenheiten, Stichwort Upload-Filter. Wie führt dieser Umstand innerhalb der eigenen Fraktion zu Streitsituationen und wie gehen Sie damit um?

Upload-Filter ist natürlich ein Beispiel, aber es war in der letzten Periode und daher kann ich nicht erzählen, wie die inhaltliche Debatte abgelaufen ist. Es gibt immer Unterschiede und das ist in allen Fraktionen so, trotz gemeinsamer Grundwerte und gemeinsamer Themen. Das hat auch viel mit Spezifika innerhalb der Mitgliedsstaaten zu tun, die alle eine eigene Geschichte und teilweise eine unterschiedliche Wirtschaftspolitik haben. Das führt bei manchen Themen einfach zu Meinungsverschiedenheiten. Aber es ist weniger als man glauben würde. In diesen Bereichen probiert man entweder, einen Konsens zu finden und die Position so abzuändern, dass mehrheitlich fast alle Parteien in der Fraktion damit leben können, oder man sagt, dass es eine Abstimmung ohne Fraktionsmeinung ist; ein sogenannter `free-vote ́. Wir haben generell auch keinen Fraktionszwang in diesem Sinne. Wenn es von Bedeutung ist, würde ich immer anders abstimmen. Als einzelnes Mitglied der Fraktion ist es dennoch wichtig im Einklang abzustimmen, da eine geschlossene Abstimmung die Verhandlungsmacht der Fraktion stärkt. Wenn eine Fraktion zuverlässig und immer einheitlich abstimmt, kann sie natürlich auch besser verhandeln. 

Wir sind gerade mitten in den EU-Budget-Verhandlungen. Österreich ist ein Land, das eine extremere Position hat, im Sinne vom Sparkurs. Vor allem auch hinsichtlich des Austritts von Großbritannien mit den erhöhten Kosten, die dadurch auftreten. Wie sehen Sie die aktuelle Einstellung Österreichs in den Budgetverhandlungen, auch als Vorsitz dieser kleinen Gruppe?

Ich finde das enorm kritisch, populistisch und nicht besonders hilfreich. Nicht nur, welche Rolle diese Gruppe der vier Länder (Anm. Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich) spielt, sondern auch welche Rolle Österreich hier einnimmt. Die Aufgaben für Europa sind nicht weniger geworden, unabhängig davon, ob Großbritannien ausgetreten ist oder nicht. Wir haben sogar eher mehr Herausforderungen. Vor allem wenn man bedenkt, dass sich zu Beginn der Legislaturperiode im Sommer alle Länder einstimmig auf diesen Green-Deal geeinigt haben, finde ich die Einstellung mancher Länder komisch. Es geht nicht, dass man dann sagt, man wusste ja nicht, dass da auch Geld benötigt wird. Das ist einfach schräg und nicht hilfreich, sondern populistisch. Es wird auch negative Konsequenzen für die Österreicherinnen und Österreicher haben, weil sich die Kürzungen im EU-Budget in einem niedrigeren Forschungsbudget niederschlagen werden. Viele Initiativen wird es einfach nicht geben, wie etwa ‘Digital Europe’. Das ist ein wichtiges Förderungsprogramm im digitalen Bereich, dass es dann einfach nicht geben wird. 

In einzelnen Mitgliedsstaaten lässt sich in den letzten Jahren eine klare nationale Tendenz erkennen, auch in Form von Anti-EU-Parteien. Finden Sie es richtig und wichtig, dass diese Parteien von wichtigen Funktionen in den EU-Institutionen ausgeschlossen werden oder nicht in Betracht gezogen werden?

Ich finde es enorm wichtig, dass die demokratischen Parteien im Parlament den Entschluss gefasst haben, mit dieser Fraktion nicht zusammenzuarbeiten. Meiner Meinung nach natürlich vor allem auch aus inhaltlichen Gründen. Das ist eine strukturell und inhaltlich rassistische Fraktion, die darüber hinaus das einzige Ziel verfolgt, das EU-Parlament in seiner Arbeit zu lähmen. Hätte man der ID-Fraktion (Anm. ‘Fraktion Identität und Demokratie’) wesentliche Positionen gegeben – nach der D ́Hondt-Verteilung hätte man das argumentieren können – dann hätten sie diese Position genutzt, um das Parlament zu blockieren und es am Erfolg zu hindern, um schließlich die eigene These zu bestätigen, dass im EU-Parlament eh nichts weitergeht. Eine Fraktion, die den Sinn und Zweck der Institution nicht sieht und sie nicht arbeiten lassen will, die kann man nicht am Schalthebel sitzen lassen. 

Wie kann man den nationalstaatlich orientierten Entwicklungen entgegenwirken? Was wäre Ihre Lösung? 

Europa muss mehr liefern. Es gibt gewisse Kritik, die absolut berechtigt ist. Die Institutionen arbeiten zu langsam und haben in vielen Bereichen zu wenig Kompetenzen. Auch, dass der Rat sehr viel blockiert, ist berechtigte Kritik. Daran muss sich etwas ändern. Wenn man die EU besser arbeiten lässt, kann sie auch besser funktionieren. Das ist meiner Meinung nach das beste Rezept gegen solche Parteien. Im Übrigen glaube ich auch nicht, dass die These stimmt, dass überall nationalistische Parteien stärker werden. Es gibt auch genügend EU-Länder, wo das absolute Gegenteil der Fall ist. Ein positives Beispiel ist etwa die Präsidentschaftswahl in der Slowakei, wo sich eine pro-europäische und Anti-Korruptionskandidatin durchgesetzt hat.

Sehen Sie durch den Populismus die Handlungsfähigkeit der EU gefährdet?

Die Handlungsfähigkeit sehe ich vor allem dann nicht gefährdet, wenn die EU ihre Handlungsfähigkeit in gewissen Fragen erhöht, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber als nächsten Schritt sicher auch in den Steuerfragen. Das ist ein Thema, dass die Europäerinnen und Europäer in nächster Zeit sicherlich stark beschäftigt. Warum ist es immer noch so? Warum schaffen wir nichts bei der Digitalsteuer? Warum gibt es keine starke Initiative zu einer europäischen CO2-Steuer? Da müssen wir auch unsere Staats- und Regierungschefs, die uns im Europäischen Rat vertreten, in die Pflicht nehmen

Werfen wir einen Blick auf Österreich. Wir haben seit kurzem eine türkis-grüne Regierung. Wir haben im Umweltbereich vor allem große Ambitionen, zumindest mit dem Schlagwort ‘Klimaneutralität 2040’. Wie realistisch finden Sie die Klimaziele und generell die Zielsetzung im Klimabereich?

Ich finde die Zielsetzung sehr richtig. Ein Punkt, den ich aufgrund der aktuellen Entwicklung kritisiere, ist, dass die österreichische Politik dann einen großen Hebel hat, wenn sie die Dinge auch auf europäischer Ebene anstößt. Es ist sicher ein guter Beitrag, wenn Österreich schnell klimaneutral wird. Es wäre aber ein noch größerer Beitrag, wenn Europa schneller klimaneutral wird. Dafür wird es aber Geld brauchen und da ist wiederum die türkis-grüne Rolle in der Budgetfrage besonders negativ auffallend. Da fragt man sich, wie erreicht man Klimaneutralität, wenn man nicht bereit ist, auf der europäischen Seite das Geld zu investieren? Das versteh’ ich einfach nicht. Wie realistisch sehe ich die Ziele? Es kommt darauf an. Türkis-Grün hat sich zum Beispiel einen sehr starken Ausbau der Wasserkraft vorgenommen. Es gibt aber viele Experten, die da nicht mehr viel Raum sehen, wenn wir unsere Flüsse in den Alpen weiterhin auf diesem Niveau schützen wollen. Hinsichtlich der Förderstruktur werden wir schon auch schauen müssen, ob sich Projekte finden, wo sich wirklich auch große Kapazitäten herausholen lassen. Oder wollen wir die ganzen Alpen mit Kleinkraftwerken verbauen? Hoffentlich nicht. 

Was ist mit Windkraftwerken?

Ja, aber auch das geht nicht im ganzen Land. Das ist ein großes Streitthema in Österreich. Wir werden sicher nicht klimaneutral mit der Einstellung ‘not in my backyard‘. 

Sie haben bereits angesprochen, dass Österreich in verschiedensten Themenbereichen mehr tun muss, auch auf EU-Ebene. Man hat im letzten Jahr gemerkt, dass Österreich wenig Schwerpunkte gesetzt hat, obwohl man den Vorsitz hatte. Wo sehen Sie Themenbereiche, in denen sich Österreich einbringen kann und soll?

Inhaltlich bin ich der Meinung, dass sich Österreich für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik starkmachen soll. Das befürwortet auch die ÖVP. Man soll sich starkmachen für wichtige Initiativen in der Klimapolitik. Meiner Meinung nach fehlt aber etwas ganz besonderes, und das ist eine positive Rolle Österreichs im Beitrag zu den Herausforderungen, die durch Migration ausgelöst werden. Da ist Österreich weiterhin – auch unter Türkis-Grün – ausschließlich in einer Blockiererrolle. Dass wir dafür verantwortlich sind, dass die Mission Sophia nicht fortgesetzt wird, halte ich für ein wirklich schändliches Zeichen für die österreichische Politik in Europa. Ich kann nicht mehr tun als dafür zu plädieren, dass diese Haltung sofort geändert wird.

Mit der Abschaffung des Amtsgeheimnisses durch die neue Regierung wurde eine Ihrer langjährigen Forderungen umgesetzt. Wie sehen Sie insgesamt das Regierungsprogramm? Sind Sie zufrieden, oder gibt es Bereiche, die zu kurz kommen?

Erstens einmal ist das Regierungsprogramm nicht die Bibel. Papier ist geduldig. Nur weil etwas im Regierungsprogramm steht, ist es noch lange kein Gesetz. Das Amtsgeheimnis beispielsweise ist noch immer nicht abgeschafft worden. Hierzu gibt es genügend Vorschläge, die man innerhalb einer Woche machen könnte. Offensichtlich gibt es dagegen aber Widerstände. Deshalb ist es gerade bei so langjährigen Forderungen wichtig, dass eine Oppositionspartei wie die NEOS darauf schaut, dass sich bei der Umsetzung keine Schlupflöcher oder dergleichen ergeben. Im Regierungsprogramm gibt es gute Dinge und es gibt Dinge, die wir weniger gut finden, die Sicherungshaft zum Beispiel. Oder auch das absolute Nicht-Anpassen der Pensionsproblematik. Man kann nicht sagen, wir hören nichts, wir sagen nichts, wir sehen nichts. Das ist Verrat an den nächsten Generationen. Darüber hinaus muss ich sagen, das soll erst einmal alles passieren. Ich werde die aktuelle Regierung nicht an ihrem Programm bewerten, sondern daran, was sie tut. 

Gehen wir noch einmal kurz zurück zur EU-Ebene. Glauben Sie, dass das Einstimmigkeitsprinzip infrage gestellt werden muss?

Auf jeden Fall und auf allen Ebenen. Auf einem Weg hin zu den Vereinigten Staaten von Europa müssen wir Stück für Stück jeden Bereich, in dem es noch Einstimmigkeit gibt, abschaffen. So werden wir auch in der Europäischen Union besser arbeiten können. 

Wir haben mit Herrn Dr. Fischler – Präsident des Forum Alpbach – ein Gespräch geführt und unter anderem wurden auch die Vereinigten Staaten von Europa angesprochen. Dr. Fischlers Meinung ist, dass in den aktuellen nationalistischen Zeiten der Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa eher zur Seite gelegt werden sollte. Wie sehen Sie das?

Ganz im Gegenteil. Ich werde meine Meinung hier nicht danach richten, wie der ganz rechte Rand Europa sieht. Ich glaube, das wäre eine sehr fehlgeleitete Vorstellung. Vor allem wenn man merkt, dass das eine Generationenfrage ist. Junge Menschen schauen anders auf die Europäische Union. Sie kennen nichts Anderes und das ist auch gut so. Ich hoffe, dass kein Mensch je wieder sehen muss, wie harte Grenzen ausschauen, wie Krieg ausschaut. Das soll niemand mehr spüren. Daher sehe ich viel Potential einer jungen Generation zu zeigen, was Europa bedeuten kann und was Europa noch viel mehr bieten kann. Deshalb werde ich sicher auch nicht aufhören, davon zu erzählen. 

Abschließend die Frage aus Sicht beider Positionen: Wo sehen Sie Großbritannien jetzt ohne EU und wo sehen Sie die EU ohne Großbritannien? 

Ich glaube, Großbritannien wird noch spüren, was es bedeutet, nicht mehr Mitglied der Europäischen Union zu sein. Vor allem auch nach diesem Jahr der Verhandlungen. Wir werden jetzt sehen, wie die Verhandlungen über die Handelsbeziehungen laufen werden. Die Europäische Union hat klargestellt, wer mit uns so handeln möchte wie zuvor, muss das auf einem ‘level playing field’ machen. Dort sind die europäischen Standards einzuhalten, ganz besonders arbeitsrechtlich, sozialrechtlich, Lebensmittelstandards, Umweltstandards und so weiter. Wenn Großbritannien nicht bereit ist, das zu machen, verliert das Land natürlich alle Privilegien, die man mit der Europäischen Union hatte. Ich glaube, dass die EU hier am längeren Hebel sitzt und hoffe doch, dass die Verhandlungen für beide Seiten positiv abgeschlossen werden, damit wir weiterhin eine enge Beziehung zu Großbritannien haben können. Aber wir werden uns nicht erpressen lassen und schon gar nicht mit unserer Haltung runtergehen. 

Wir bedanken uns bei Claudia Gamon für das Gespräch.

Alexander Speierle-Vidali
Als Political Science MA-Student mit praktischer Political Campaigning Erfahrung spezialisiert sich Alexander auf die Analyse von österreichischer & internationaler Politik sowie Wahlstrategien. Außerdem wirkt er federführend an den Gesprächen mit.

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