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Keine andere Region der Welt wird seit den letzten Jahrzehnten dermaßen von Krisen durchrüttelt wie der Nahe Osten. Das Schachbrett der Großmächte wird nicht erst seit dem Arabischen Frühling von Kriegen heimgesucht. Der Nahe Osten ist vielfältig – religiös, politisch und kulturell. Obwohl das heutige Erscheinungsbild des Nahen Ostens von den letzten absoluten Monarchien und Ein-Parteiensystemen geprägt wird, gilt die Region als die Wiege der Zivilisation. Bereits vor tausenden Jahren siedelten sich im Gebiet zwischen Euphrat und Tigris die ersten Hochkulturen an. Als Ausgangsgebiet der Islamisierung und Mittelpunkt der späteren Kreuzzüge war der Nahe Osten immer zwischen zwei Welten hin- und hergerissen. Viele konservative Teile des heutigen Orients waren einst verantwortlich für die kulturelle Blüte, die bis nach Europa reichte.

Es wurden Grenzen gezogen, die mitunter für viele der heutigen Konflikte verantwortlich sind.

Wichtig für die aktuellen Krisenherde ist hingegen vor allem die Geschichte der letzten hundert Jahre. Wichtige Teile des Orients standen lange Zeit unter osmanischer Herrschaft und spielten bereits im Ersten Weltkrieg eine Schlüsselrolle – nicht zuletzt, weil die Großmächte ihre Kriege auch im Nahen Osten austrugen. Beide Seiten, sowohl die Deutschen als auch die Engländer und Franzosen wussten seit jeher die Wichtigkeit der Verbündeten in der Region zu schätzen. Unzufrieden durch die osmanische Herrschaft, strebten arabische Stämme vor allem vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg nach politischer Unabhängigkeit. Die Versprechungen einzelner europäischer Mächte, allen voran der Engländer, die arabischen Stämme würden im Falle eines Bündnisses die Unabhängigkeit erhalten, wurden nicht erfüllt. Stattdessen wurde durch die Franzosen und Engländer die Neuordnung im Nahen Osten beschlossen. Es wurden Grenzen gezogen, die mitunter für viele der heutigen Konflikte verantwortlich sind. Anstatt eines arabischen Großstaates, wurde das Gebiet in etliche Kleinstaaten geteilt, die innerstaatlich oft heterogen zusammengesetzt waren.

Cleavages zwischen ethnischen und religiösen Minderheiten

Ein Blick auf den Libanon, Syrien oder den Irak veranschaulicht die Situation. Vor allem der Libanon scheint ein Paradebeispiel aus dem Geschichtsbuch zu sein. Die ethnische und religiöse Heterogenität wird durch eine einzigartige Verfassung, die Ämter nach Religion und Ethnie vordefiniert, zusammengehalten. Religiös gesehen besteht die eine Hälfte der Bevölkerung aus Sunniten und Schiiten, die andere Hälfte aus orthodoxen, katholischen und maronitischen Christen. Hinzu kommt noch eine drusische Minderheit, die in der Region – vor allem im Libanon, Syrien und Israel – eine Rolle spielt. In abgeschwächter Form lassen sich auch in Syrien und im Irak unterschiedliche ethnische und religiöse Minderheiten definieren, die zur autochthonen Bevölkerung zählen. Die Kurden etwa spielen eine prägende Rolle im Irak und haben durch eine Autonomie sogar eigene Streitkräfte und eine eigene Regierung.

Den Israel-Palästina-Konflikt außen vorgelassen, gibt es auch innerhalb der arabischen Welt weitgehende Konfliktlinien. Der ehemalige irakische Machthaber Saddam Hussein, selbst ein Sunnit, regierte das mehrheitlich schiitische Land. Die innerkonfessionellen Konflikte, nicht nur im Irak, stell(t)en den Nährboden für zahlreiche Konflikte. Saddam Hussein versuchte nicht nur eine sunnitisch-arabische Machtriege zu installieren – er ging auch gegen einzelne, einflussreiche ethnische Minderheiten vor (wie etwa gegen die Kurden). Das Stürzen eines Regimes – aus welchen Gründen auch immer – ist das eine, der Kontrollverlust über das Umfeld des gestürzten Regimes das andere. Vor allem im irakischen Fall wurden tausende hochrangige Offiziere innerhalb eines Tages in den Untergrund getrieben. Das sind dieselben Offiziere, die viele Jahre später teilweise die Führungsriege des Islamischen Staates stellen.

Vor allem im irakischen Fall wurden tausende hochrangige Offiziere innerhalb eines Tages in den Untergrund getrieben.

Im benachbarten Syrien zeichnet sich ein ähnliches Bild ab – das mehrheitlich sunnitisch geprägte Land wird seit mehreren Jahrzehnten von einer alawitischen Familie der al-Assad autoritär regiert. Aus Angst, islamistische Gruppen könnten die Macht im Land übernehmen, schließen einzelne Minderheiten Zweckgemeinschaften mit den Machthabern. Neben Bashar al-Assad prägen den Bürgerkrieg nicht nur eine demokratische Opposition, sondern vorrangig auch islamistische Rebellen, Kurden und christliche Minderheiten. Wichtig in dieser Debatte ist vor allem, einerseits durch die schwierige Situation im Land nicht das Vorgehen der Machthaber zu relativieren, gleichzeitig aber auch radikale Rebellengruppen als solche zu betiteln.

Die Gefahr in der Debatte besteht oft darin, in verschwörungstheoretischer Manier autoritäre Regime zu rechtfertigen und den Bevölkerungen das Recht auf Widerstand abzusprechen, weil Großmächte oft in diese Konflikte involviert sind. Groß- und Regionalmächte spielen zweifelsohne eine gewichtige Rolle in der Region und versuchen eigene Interessen voranzutreiben. Dass aus diesem Grund innerstaatliche Spannungen und Bürgerkriege von Fremdstaaten zusätzlich aufgeschaukelt werden und einzelne Gruppen unterstützt werden, liegt in der Natur der Geopolitik.

Mehr als nur ein Schlachtfeld für Stellvertreterkriege

In Syrien, im Irak und im Libanon treffen unterschiedliche Interessen aufeinander. Der regionale Machtkampf Irans mit Saudi-Arabien beispielsweise ist eine wichtige Grundlage für den Konflikt und basiert auf die sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsteile. Für den Iran ist die Unterstützung der Schiiten im Irak, Syrien und Libanon von nationaler Wichtigkeit, um den Einflussbereich zu erweitern und eine logistische Brücke zur Hisbollah-Miliz zu bauen. Hierbei gilt vor allem Bashar al-Assad als wichtiger Partner, weswegen in Syrien auf der Seite des Regimes auch iranische Einheiten operieren. Saudi-Arabien versucht auf der anderen Seite den iranischen Einfluss im Nahen Osten zurückzudrängen und die eigene Einflusssphäre auszubauen. Nicht nur im benachbarten Katar, sondern vor allem auch in der Region rund um den Irak und Syrien. Es gilt zu erwähnen, dass Saudi-Arabien eine konservative Ausprägung des Islam, den Wahhabismus, als Staatsreligion etabliert hat. Eine der letzten absoluten Monarchien, die gelegentlich aufgrund brutaler Hinrichtungen in den Medien steht, unterstützt weltweit die Verbreitung des Wahhabismus. Dabei stehen die saudi-arabischen Machthaber, aber auch Katar, unter Verdacht, radikale Gruppen im Konflikt direkt oder indirekt zu finanzieren.

Ein weiterer wichtiger regionaler Player ist die Türkei, die ebenso unter Verdacht steht, einzelne radikale Gruppen in Syrien – vor allem Nordsyrien – zu finanzieren. Die Interessen der Türkei liegen allen voran darin, eine zu starke kurdische Selbstverwaltung im Norden Syriens zu verhindern. Unter dem Vorwand Terroristen zu bekämpfen, finanziert die Türkei nicht nur einzelne anti-kurdische Kräfte in der Region, sondern nimmt auch selbst aktiv Teil an Militäroperation, zu sehen etwa bei der Intervention in Nordsyrien. Das Land am Bosporus manövriert dabei zwischen Washington und Moskau, was nicht zuletzt Auswirkungen auf den Konflikt im Nahen Osten hat. Während Russland den syrischen Machthaber unterstützt, gleichzeitig aber die Beziehungen zur strategisch wichtigen Türkei gestärkt hat, hat die Türkei ein besonderes Spannungsverhältnis zu Bashar al-Assad. Durch die Intervention im mehrheitlich von Kurden besetzten Nordsyrien kommt es gelegentlich zu Auseinandersetzungen mit den syrischen Regierungseinheiten.

Die Wiege der Zivilisation gilt dabei als das Schlachtfeld, auf dem Großmächte ihre Stellvertreterkriege austragen, auf Kosten der Zivilbevölkerung.

Wenn über die Rolle Russlands in der Region gesprochen wird, müssen im gleichen Atemzug die Vereinigten Staaten angesprochen werden. Ähnlich wie Saudi-Arabien und der Iran, versuchen auch Russland und die Vereinigten Staaten ihre Einflusssphären in der Region zu verteidigen oder auszubauen. Die Wiege der Zivilisation gilt dabei als das Schlachtfeld, auf dem Großmächte ihre Stellvertreterkriege austragen, auf Kosten der Zivilbevölkerung. Es geht nicht nur um den Militärhafen Tartus, den die Russen nicht verlieren wollen. Und es geht nicht nur um die Ölreserven, die Donald Trump medial zu verteidigen vermeldete. Es ist das Gesamtpaket der Interessen, die heterogener nicht sein könnten: Die religiöse Auseinandersetzung zwischen den Schiiten und Sunniten oder die einfache Machtfrage der zwei Theokratien in der Region. Es ist die Auseinandersetzung zwischen aufgeklärten Monarchien wie Jordanien, ja sogar demokratischen Systemen wie im Libanon oder in Israel, und den erzkonservativen Konterparts der arabischen Halbinsel. Nicht zuletzt ist es auch eine Auseinandersetzung in der Israel-Palästina-Frage, die den Nahen Osten stärker spaltet, als von vielen angenommen.

Auch und vor allem in diesem Punkt zeigen sich bis heute noch die Folgen der Teilungspolitik der ehemaligen Kolonialmächte. Bis heute noch gilt die Wiege der Zivilisation als das Schachbrett der Großmächte.

Konstantin Ghazaryan
Neben seiner Mitwirkung an der Interviewführung und -ausarbeitung, verfasst der Political Science MA-Absolvent vor allem Analysen und Kommentare für die Bereiche der internationalen und europäischen Politik. Die Bereiche Sicherheitspolitik, Allianzen und Diplomatie gehören zu seinen Schwerpunkten.

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