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Herr Selmayr, Sie haben auf EU-Ebene in den letzten Jahren eine beachtliche Karriere hinter sich. Können Sie uns kurz Ihren Werdegang schildern und Ihre Motivation, sich in und für die EU zu engagieren?

Das Schlüsselerlebnis in Sachen Europa liegt für mich in meiner Jugend, so wie wahrscheinlich für viele Menschen. Als ich 15 Jahre alt war, sind meine Großeltern mit mir nach Frankreich gefahren. Sie haben mir fünf Tage lang das Land und die Kultur gezeigt, aber auch die Schlachtfelder von Verdun, wo sich im Ersten Weltkrieg tausende von Deutschen und Franzosen gegenseitig getötet haben. Wenn man in diesem Alter die weißen Kreuze bis an den Horizont sieht, dann wird einem die Bedeutung von Frieden bewusst.

Meine Großeltern haben mir damals vor Augen geführt, dass es Aufgabe meiner Generation ist, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert. Das hat mich zum Europäer gemacht und mich dazu motiviert, Sprachen zu lernen. Und es hat mich wohl im Laufe der Zeit nach Brüssel in die Europäische Kommission geführt, für die ich mittlerweile 20 Jahre lang arbeite.

Seit November 2019 sind Sie nun Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich. Mit welchen Aufgaben sind Sie hier vertraut.

Meine Aufgabe ist es, das gegenseitige Verständnis zwischen der Europäischen Kommission in Brüssel und verschiedensten Akteuren in Österreich sicherzustellen. Europäische Politik wird nicht nur in Brüssel und Straßburg gemacht, sondern in jeder nationalen Hauptstadt. Deshalb ist es für EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen wichtig, dass wir in engem Austausch stehen mit allen Ministerien hier in Wien, mit den Politikerinnen und Politikern, mit dem Parlament, den Interessenvertretern und mit den österreichischen Bundesländern.

Mein kleines Team – wir sind zwanzig Leute in der Wipplingerstraße in Wien – stellt diesen Kontakt täglich her: zur Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und zu den Medien. Eine wichtige Aufgabe ist es, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, dass Österreich an allen Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, zu hundert Prozent beteiligt ist. Wenn sich Österreich gut aufstellt, kann es sich stark einbringen. Europa basiert auf gemeinsamen Beratungen und Kompromissen. Das ist die große Stärke Europas.

Wie kam es für Sie zur Entscheidung, nach Österreich zu gehen?

Mit Österreich bin ich seit vielen, vielen Jahren eng verbunden. Ich habe hier, wie wahrscheinlich alle Piefkes – so wie wir Deutsche ja gerne genannt werden – im Alter von vier Jahren Skifahren gelernt. Mein Studium habe ich in der schönen Drei-Flüsse-Stadt Passau absolviert, die ja direkt an der Grenze zu Österreich liegt. Als Studierende haben wir damals festgestellt, dass die attraktiveren Biergärten auf der österreichischen Seite sind. Ich bin der Stadt immer noch eng verbunden.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat mir vor einem Jahr angeboten, nach New York zu gehen. Ich wollte aber lieber nach Wien, weil ich Wien sehr schätze und Österreich näher kennenlernen wollte.

Österreich ist für mich ein spannendes Land, das im Herzen Europas liegt. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat mir vor einem Jahr angeboten, nach New York zu gehen. Ich wollte aber lieber nach Wien, weil ich Wien sehr schätze und Österreich näher kennenlernen wollte. Österreich liegt in Europa direkt zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Es kann eine tolle Brückenfunktion einnehmen. Dieses Jahr ist Österreich 25 Jahre Mitglied der Europäischen Union. Das ist für mich der richtige Moment, hier in Österreich mitzuwirken, dass das Land eine noch stärkere Rolle in der EU spielt. Und zwar eine Rolle, die Europa voranbringt und nicht zurückfallen lässt.

Als Vertreter der EU-Kommission waren Sie vor kurzem zu Gast bei Bundespräsident Alexander van der Bellen. Sie haben für den EU-Wiederaufbauplan ‚Next Generation EU‘ sozusagen Werbung gemacht. Dieser wurde aufgrund der Coronakrise ins Leben gerufen. Können Sie ihn uns kurz vorstellen?

Ich fand es eine tolle Initiative, dass Bundespräsident Van der Bellen alle EU-Botschafter in die Hofburg eingeladen hat. Nicht, um Werbung für den Wiederaufbauplan zu machen, sondern um über die Vor- und Nachteile und Nuancen zu sprechen.

In der Covid-19 Krise haben wir den Kontinent heruntergefahren, um Menschenleben zu schützen. Das haben wir uns mit einem teilweisen Koma unserer Wirtschaft erkauft. In Europa haben wir die Möglichkeit dazu, weil wir der reichste Kontinent der Welt sind. Für uns steht der Schutz des menschlichen Lebens und der Gesundheit an oberster Stelle. Aber jetzt geht es darum, Europa aus der Rezession zu führen und zu stärken. Manche europäischen Länder sind von der Covid-19 Krise stärker betroffen als andere – und das unverschuldet. In Österreich hat man vielfach den Eindruck, dass die Covid-19 Krise bisher relativ glimpflich verlaufen ist. Es gab weniger Fälle als in vielen andern EU-Staaten, aber es besteht die große Gefahr einer zweiten Welle.

In manchen Teilen Europas hat die Corona-Pandemie zahlreiche Tote gefordert und auch die Wirtschaft massiv beeinträchtigt, wie z. B. in Spanien, Norditalien oder Teilen Frankreichs. Auch die Slowakei leidet im europäischen Vergleich an einem der stärksten Wirtschaftseinbrüche, weil sie im Binnenmarkt sehr eng mit den Nachbarstaaten verzahnt ist.

Wir müssen auch den am stärksten betroffenen Ländern wie Italien und Spanien helfen – und das nicht nur aus Solidarität. Italien ist für Österreich der zweitgrößte Exportmarkt in Europa.

Wir müssen jetzt solidarisch sein, um gemeinsam aus der Wirtschaftskrise herauszukommen. Es geht nicht nur um die Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie. Wir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass unser Kontinent im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz gestärkt wird.  Jede Krise bietet auch eine Chance, und diese müssen wir nützen. So sollten wir beispielsweise Polen, wo es viele Kohlekraftwerke gibt, dabei unterstützen, beim Hochfahren der Wirtschaft vermehrt auf erneuerbare Energien zu setzen. Hier hat es Sinn, EU-Mittel zu investieren, denn die Luft und das Klima in Europa sind ein gemeinsames Gut. Wir müssen auch den am stärksten betroffenen Ländern wie Italien und Spanien helfen – und das nicht nur aus Solidarität. Italien ist für Österreich der zweitgrößte Exportmarkt in Europa. Wenn es Italien nicht gut geht, leidet auch Österreich. Das sollten wir nicht vergessen.

Zudem müssen wir gemeinsam in die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid-19 investieren. Das ist eine große Anstrengung, die pharmazeutische Unternehmen nicht alleine stemmen können. Es sollte nicht so sein, dass derjenige als erstes an einen Impfstoff kommt, der eine nationalistische Politik verfolgt.  Wir werden die Corona-Pandemie nur dann überwinden können, wenn ein Impfstoff ein öffentliches Gut ist und der ganzen Welt zur Verfügung steht.

Die österreichische Bundesregierung steht dem ‚Next Generation EU‘-Plan eher kritisch gegenüber, vor allem auch dem Umfang. Was entgegnen Sie dieser Kritik?

Ich würde das nicht schwarz-weiß malen. Jeder der 27 Mitgliedstaaten vertritt seine Interessen. Die einen wollen mehr Mittel für die unterschiedlichsten Bereiche, die anderen fordern Rabatte oder eine stärkere Konditionalität. Das ist eine ganz normale legitime Diskussion, wenn es um solch große Beträge geht.

Wenn Projekte in Italien, Polen oder der Slowakei aus EU-Töpfen gefördert werden und es den dortigen Unternehmen und Bürgern gut geht – und sie österreichische Produkte und Dienstleistungen kaufen, entstehen auch hierzulande Arbeitsplätze.

Der Europäische Rat verhandelt darüber, wofür die EU-Mitgliedsstaaten in den nächsten sieben Jahren gemeinsam ihr Geld ausgeben. Das muss genau überlegt sein. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Österreich nicht nur von den EU-Geldern profitiert, die direkt nach Österreich fließen. Wenn Projekte in Italien, Polen oder der Slowakei aus EU-Töpfen gefördert werden und es den dortigen Unternehmen und Bürgern gut geht – und sie österreichische Produkte und Dienstleistungen kaufen, entstehen auch hierzulande Arbeitsplätze. Zudem gibt es EU-Ausgaben, die allen Mitgliedstaaten einen Nutzen bringen, der sich aber nicht in Rückflüssen an nationale Budgets messen lässt – Beispiele sind hier Ausgaben für Sicherheit und Satellitennavigationssysteme

Wir sind ein vernetzter Kontinent. Das haben wir in der Coronakrise sehr plastisch gesehen. Wenn auf einmal die Grenzbalken wieder runtergehen, leiden wir alle. Dann können Grenzgänger nicht an ihren Arbeitsplatz gelangen und es gibt Probleme beim Export. Die Covid-19 Krise hat gezeigt, wie sehr wir alle voneinander abhängig sind.

Sie sind jetzt schon stark auf die Kritik am Wiederaufbauplan eingegangen. Dieser ist nicht nur ein Coronapaket, sondern er geht weit darüber hinaus. Länder wie Ungarn und Polen etwa sind von Corona nicht so stark betroffen, wirtschaftlich büßen sie aber dennoch so viel ein, dass der kolportierte Berechnungsschlüssel dadurch gerechtfertigt ist?

Wenn wir auf europäischer Ebene einen langjährigen EU-Haushalt beschließen, müssen alle Mitgliedsstaaten zustimmen. Wenn 27 Staats- und Regierungschefs nach Brüssel fahren und am Ende eine Person sagt, sie hätte als einzige gewonnen, dann kann das nicht richtig sein. Alle müssen einen Erfolg mit nach Hause nehmen und deshalb ist es wichtig, dass wir die Interessen aller berücksichtigen.

Der Anlass für den Wiederaufbauplan ist die Coronakrise, sie hat die stärkste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht. Wie erwähnt wollen wir gemeinsam stärker aus der Krise kommen und deshalb bekämpfen wir nicht nur die unmittelbaren Folgen der Corona-Pandemie, sondern wir machen unseren Kontinent dauerhaft nachhaltiger und zukunftsfähiger. Die Ziele decken sich vielfach mit dem Programm der österreichischen Bundesregierung. Wir wollen in den nächsten sieben Jahren die Weichen dafür stellen, dass Europa bis 2050 ein klimaneutraler Kontinent wird. Wir müssen das große Ganze sehen und mittel- und langfristig denken. Deshalb hat Ursula von der Leyen dieses Programm nicht Marshallplan genannt, sondern ‚Nächste Generation EU‘. Wir wollen, dass die nächste Generation etwas davon hat, und nicht die Zeche zahlt. Die Gelder müssen zielgerichtet ausgegeben werden. Die Europäische Kommission und die österreichische Bundesregierung haben zu einem ähnlichen Zeitpunkt mit ähnlichen Zielsetzungen gestartet: für Wettbewerbsfähigkeit, den grünen Deal und eine stärkere Digitalisierung Europas.

Vorhin sprachen Sie davon, alle Mitgliedsstaaten müssten zustimmen – Stichwort Einstimmigkeitsprinzip. Uneinigkeiten sind bei 27 Mitgliedsstaaten kein Einzelfall, etwa im Außengrenzschutz, bei der Flüchtlingsverteilung oder im EU-Budget, um nur einige Beispiele zu nennen. Dadurch bringt sich die EU vermehrt um ihre Handlungsfähigkeit. Konkret auf das Einstimmigkeitsprinzip bezogen, wie kann die EU aus dieser ‚Misere‘ herauskommen?

Die Europäische Union stimmt in 90 Prozent der Fälle mit Mehrheit ab. Das ist so selbstverständlich, dass man es gar nicht merkt. Dann gibt es einige wenige Bereiche, wie beispielsweise außenpolitische Fragen und Steueragenden, wo die Mitgliedstaaten Beschlüsse nur einstimmig fassen können. Das gilt auch, wenn wir den langfristigen Finanzrahmen festlegen, oder die Verträge der EU ändern. Ich sehe das nicht als großes Hindernis für die Handlungsfähigkeit Europas, solange alle Mitgliedsstaaten den politischen Willen aufbringen, vorwärts zu kommen – unabhängig von Verfahren, Institutionen und Abstimmungsregeln.

Nehmen wir an, militärische Entscheidungen in der Außenpolitik würden mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Ich bin mir sicher, dass das in Österreich keine große Zustimmung finden würde. Das sind sensible Entscheidungen, die wir einstimmig treffen müssen. Genauso ist es bei unserem Wiederaufbauplan. Wir erneuern damit sozusagen unser Bekenntnis zur Europäischen Union.

Sie haben auch die Flüchtlingspolitik angesprochen. Hier stimmen wir in Europa mit Mehrheit ab. 2015 haben wir entschieden, dass Flüchtlinge verteilt werden – mehrheitlich. Österreich war auch dafür. Damals haben wir etwa hunderttausend Flüchtlinge verteilt. Alle Zeitungen schreiben, Europa wäre gescheitert. Aber ich bin froh, dass wir mit diesem Beschluss hunderttausend Flüchtlingen eine Heimat bieten konnten.

Europa ist kein Spaziergang in der Ebene, sondern eine Bergtour. Das ist manchmal mühsam, aber es macht uns stärker, wenn wir gemeinsam den Gipfel erreichen.

Wir streiten manchmal in Europa und brauchen öfter länger, um einen Kompromiss zu finden. Das ist aber nichts Schlechtes und in einer Demokratie üblich. Europa ist kein Spaziergang in der Ebene, sondern eine Bergtour. Das ist manchmal mühsam, aber es macht uns stärker, wenn wir gemeinsam den Gipfel erreichen.

Richtig ist, dass wir manchmal schneller sein müssen. Ich wünsche mir deshalb, dass wir nicht lange Zeit verlieren, Verträge und Verfahren zu ändern, und uns lieber öfter treffen und entschlossen handeln, wenn es schwierig wird.

Nachdem Albanien und Nordmazedonien alle Auflagen für den Start von Beitrittsverhandlungen erfüllt hatten, kam von Frankreich ein Veto. Verspielt die EU eventuell ihre Glaubwürdigkeit und ihren Einfluss auf die Regionen?

Wenn das so wäre, wie sie sagen, dann wäre das tatsächlich eine Gefahr. Aber die Lage war eine andere. In der Presse wurde geschrieben, es hätte ein Veto Frankreichs gegeben. Nein. Frankreich hat legitimer Weise hinterfragt, ob sichergestellt ist, dass Europa nach diesen Beitritten handlungsfähig bleibt und das Rechtsstaatsprinzip in den Ländern fest verankert ist. Wir haben die Methodologie für die Beitrittsverhandlungen vor diesem Hintergrund überarbeitet. In der Folge haben die Mitgliedstaaten im April – mitten in der Coronakrise – einstimmig beschlossen, dass Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufgenommen werden. Und zwar unter Berücksichtigung der Bedingungen, die Frankreich sehr zurecht eingefordert hat. Ein Beitrittsprozess kann keine Einbahnstraße sein. Unsere europäischen Werte sind ein wichtiger Grundsatz und jetzt ist ihre Einhaltung sichergestellt.

Können Sie sich auch eine andere Funktion vorstellen, etwa in einer anderen Position auf EU-Ebene oder als Universitätsprofessor?

Ich bin sehr gerne in Wien und hoffe, dass ich hier so lange wie möglich bleiben kann.  Es ist eine tolle Aufgabe, die Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich zu leiten. Österreich ist ein wunderschönes Land und Wien eine wunderschöne Stadt. Universitätsprofessor bin ich in meiner Freizeit und das macht sehr viel Freude.

Alexander Speierle-Vidali
Als Political Science MA-Student mit praktischer Political Campaigning Erfahrung spezialisiert sich Alexander auf die Analyse von österreichischer & internationaler Politik sowie Wahlstrategien. Außerdem wirkt er federführend an den Gesprächen mit.

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